Infos zu Psychischer Gesundheit und Genesung

Inspiration, Reflexion und Beratung aus Peer-Perspektive

Trust in what you believe in – and go ahead!

Hauptsächlich geht es für uns alle darum, unser eigenes Leben zu leben, statt aus Traumatisierung und der daraus folgenden Angst oder Verunsicherung zu tun, was andere sagen/wollen oder uns zu blockieren oder zu verzetteln. Deshalb kann es auf dem Genesungsweg auch (allenfalls mehrfach) sinnvoll sein, die berufliche Orientierung und/oder das persönliche Umfeld anzupassen.

Ich habe vorwiegend im Bereich Psychose und Stimmenhören Erfahrungen und Kompetenzen, deswegen lege ich in meiner Arbeit als Dozentin auch den Fokus in diese Thematik. Allerdings lassen sich meines Erachtens auch allerlei grundlegende und für alle psychischen Krisen und Genesungswege hilfreiche Erkenntnisse daraus ableiten oder das Thema kann als exemplarisches Beispiel, zum Beispiel für Studierende oder in der Therapie-Ausbildung, dienen.

Die folgenden Informationen, Erklärungsansätze, Anregungen und Empfehlungen sind relativ ausführlich. Dies ist der Vielschichtigkeit und individuellen Vielfalt geschuldet. Wenn es im ersten Moment zu viel Text sein sollte, lohnt es sich vielleicht, sich dies für eine ruhige Stunde vorzunehmen oder es Schritt für Schritt zu lesen. Ich möchte hierzu ausdrücklich auch Betroffene und Angehörige einladen.

Ich plane auch, zwei Bücher zu publizieren (eins für Betroffene und eins für Fachpersonen – die Angehörigen könnten eventuell von beiden profititieren), aber diesbezüglich bitte ich um Geduld. Hingegen bin ich bereits jetzt dankbar um Aufträge für Workshops, Fortbildungen, Referate, Beratung und weitere Inputs.

Es ist nicht selten, dass Psychose-Erfahrene und Stimmenhörende als Kinder nicht sich selbst sein durften, dass ihre gesunde Entwicklung nicht unterstützt wurde, sondern dass ihr familiäres, schulisches oder sonstiges Umfeld sie ausgrenzte, abwertete, mobbte, emotional vernachlässigte oder dass ihnen viel zu viel Verantwortung für ihr Alter aufgeladen wurde. Wenn Kinder sich vom Umfeld nicht akzeptiert fühlen, wenn ihre Gefühle und Bedürfnisse vom Umfeld nicht ernst genommen, sondern als lächerlich oder daneben empfunden oder abgewertet werden, dann führt dies zu einer tiefen Verunsicherung und einem übertriebenen Druck, sich anzupassen und immer noch mehr für die anderen zu tun, statt für sich einzustehen zu lernen und sich für die eigenen Bedürfnisse, Interessen und für die eigene Sichtweise zu wehren. Es entsteht eine Traumabindung, das heisst, dass die Betroffenen, ungute Erfahrungen als normal erleben. Sie orientieren sich weniger an dem, was für sie stimmt, als an dem, was das Umfeld von ihnen will, teilweise ohne das überhaupt zu merken. Überanpassung und Zweifel an sich selbst und den eigenen Erfahrungen werden zur unbewussten Überlebensstrategie. Oft sind Menschen mit Psychose-Erfahrung besonders sensible und empathische Menschen, die in einer Umgbebung aufgewachsen sind, wo ihre feinfühlige und tiefgründige Art als anstrengend oder zu wenig tatkräftig empfunden wird. Auf dem Genesungsweg vorwärts zu kommen, bedeutet, die oft komplexen traumatischen Erfahrungen immer stärker zu verarbeiten und ins wirklich eigene, selbstbestimmte Leben zu finden. Das bedeutet auch die Abgrenzung von all dem, was einem nicht gut tat oder was nicht stimmig mit der eigenen Identität, dem eigenen Erleben und den jeweiligen individuellen Bedürfnissen ist. Alle haben das Recht, sich Orte zu finden oder zu schaffen, wo sie sich wohl fühlen können. Oft hilft es, Gleichgesinnte zu finden, sich auszutauschen, den Erfahrungen und der Biographie auf den Grund zu gehen sowie Neues auszuprobieren und vielleicht auch einen Wechsel bezüglich Ausbildung und Beruf ins Auge zu fassen. Ein eigenes selbstbestimmtes Leben zu führen, bedeutet allerdings auch, dass nicht für alle Betroffenen dasselbe hilfreich ist. Je nachdem in welche unpassende Richtung es bisher ging, ist es vielleicht nicht für alle sinnvoll, mehr Raum für Reflexion zu schaffen, sondern es könnte auch das Gegenteil dienlich sein. Wenn beispielsweise jemand eher eine Macher-Persönlichkeit ist, handwerkliches Geschick hat und viel körperliche Aktivität braucht, könnte es sogar ein Trauma sein, dass in der Kindheit das Hauptgewicht auf Denken, kognitivem Lernen und Sprechen lag. Ein anderes Beispiel ist, wenn sich Menschen nicht in diejenigen Richtungen, die sie in der Tiefe berühren und interessieren, entwickeln durften, sondern stattdessen nur Ausbildung und Förderung in Bereichen erhielten, die sie langweilen und unterfordern. Ebenfalls kann es ein wichtiges Thema sein, dass verunsicherte und ängstliche Menschen, die aber von der Veranlagung her sehr sozial und vielleicht gar extrovertiert sind (bei Hochsensiblen spricht man dann von Ambivertiertheit), nicht ausreichend gute Kontakte haben und sich vielleicht auch beruflich viel in einsamen Tätigkeiten wiederfinden. Dasselbe gilt natürlich jeweils umgekehrt auch. Meist waren in der Herkunftsfamilie von Menschen mit Psychosen oder bei Stimmenhörenden, die darunter leiden, (einzelne oder auch alle) Gefühle unerwünscht, aber es gibt auch hier Betroffene, bei denen das Gegenteil der Fall ist: vor lauter Einfühlen in andere, konnte gegen aussen zu wenig Handlungsfähigkeit entwickelt werden. Ebenfalls kann es zu Problemen führen, wenn Menschen nicht ausreichend Ausgleich oder Erholung haben durften und sich derartigen Stress oder eine Verengung des Fokus nun selbst weiter zufügen.

Für Psychose-Erfahrene und Stimmenhörende sind es nicht selten auch stark verunsichernde Themen, ob sie in der Familie gewollt waren/sind sowie ob und wo sie sich zugehörig fühlen könn(t)en. Auch denke ich, dass zusätzlich zu Traumatisierungen in der Kindheit und Jugend auch transgenerational (epigenetisch) weitergegebene und als ungeborenes Kind erlebte Traumata Ursachen für spätere Psychosen und für belastendes Stimmenhören sind. Wenn ein Embryo mit heftigen negativen Gefühlen der Mutter, welcher es während der Schwangerschaft alles andere als gut ging, überschwemmt wird, dann hat er keine Chance, sich davon abzugrenzen. Dies könnte die traumatische Grundlage für späteres Erleben, dass allzu Vieles mit einem ganz persönlich zu tun hat (von den Fachpersonen „Bezugswahn“ genannt) sein. Und wenn bereits die Eltern traumatisiert sind oder wenn man über schlimme Erfahrungen in der Familiengeschichte schweigt, die aber spürbar sind, können Kinder möglicherweise die daraus entstehenden Dissonanzen zwischen dem, was sie wahrnehmen und spüren auf der einen Seite und dem, was gesagt wird, auf der anderen Seite nicht einfach stehen lassen, sondern sie entwickeln Verunsicherungen und tragen stets ungelöste Fragen und ein erschüttertes Vertrauen ins Umfeld in sich. Sie müssen sich aber angewöhnen, das Misstrauen zu unterdrücken, denn sonst würden sie in einer zu emotionaler Sprachlosigkeit tendierenden Familie handlungsunfähig. Dies ist eine Ursache für spätere Paranoia, weil man sich in einer Ambivalenz zwischen einer Prägung allzu grosser Naivität wiederfindet, mit Versuchen, nachzufragen und Belastendes zu klären, negative Erfahrungen gemacht hat und sich von unguten Kontakten und einseitigen Beziehungen nicht abgrenzen kann. Deshalb machen Betroffene immer wieder schwierige Erfahrungen, können die Empfindungen, dass da etwas nicht stimmt, aber nicht richtig differenzieren und schon gar nicht gut damit umgehen. Dass in einer Psychose das Misstrauen omnipräsent ist, macht – wie jede psychotische Erfahrung – dann einerseits das Thema bewusst (zwingt aufgrund der neuen Erfahrungen und des Leidensdrucks dazu!) und ermöglicht gleichzeitig eine raschere Veränderung als das ohne die Energie und das Tempo der Psychose möglich wäre. Dies alles hat also auch eine wichtige Funktion. Solche Erlebensweisen in der Psychose sind bezüglich aller Gefühle möglich, die zuvor als Überlebensstrategie unterdrückt werden mussten. Sie sind ein Selbstrettungsversuch der Psyche in Situationen, aus denen diese keinen anderen Ausweg mehr findet, um die Perspektive auf und den Glauben an ein gutes Leben aufrecht zu erhalten.

Weitere Psychosen mitverursachende Probleme entstehen durch eine Erziehung, welche dem jeweiligen Alter des Kindes nicht angemessen ist. Wenn beispielsweise nicht geholfen, unterstützt oder erklärt wird, wie die Kinder etwas tun sollten und ihre Überforderung für sie normal wird, wenn das Kind, alleingelassen in der Not, sich falsch Verstandenes und ungute Glaubenssätze angewöhnt und seine Angst, Einsamkeit, Trauer, Enttäuschung, seinen Schmerz und seine Ohnmacht nur aus dem Bewusstsein verdrängt aber nicht beruhigen kann, häufen sich diese Gefühle an und werden selbst dann traumatisch, wenn die einzelnen Ereignisse gar nicht so schlimm erscheinen. Ein ganz kleines Kind, das hinfällt und sich die Knie aufschürft, braucht beispielsweise den Trost und die Beruhigung von aussen, um sich dies dann immer stärker auch selbst zu geben. Fehlt den Eltern aufgrund eigener Traumata oder in schwierigen Situationen die Möglichkeit oder Kompetenz, zu spüren, was das Kind braucht, dann bedeutet das eine grosse bleibende Belastung. Kinder und Jugendliche können und müssen in solchen Situationen lernen, so zu tun, als ob nichts wäre, aber wenn sie als Erwachsene wieder mit ähnlichen Problemen konfrontiert werden, dann kann das nicht nur eine aktuelle Überforderung darstellen, sondern auch all die angestauten, bisher verdrängten Gefühle und Erfahrungen aufwühlen. Vor allem wenn sich die verinnerlichten Glaubenssätze widersprechen oder wenn die äussere Situation nach wie vor oder von Neuem eine Lösung der Probleme verunmöglicht, kann aus einer solch emotional überschwemmenden Situation eine Psychose losgetriggert werden. Eine Art Retraumatisierung löst diese ungwöhnliche und oft erschreckende Erfahrung also aus. Übrigens kann es die Schwierigkeiten besonders rasch lösen, wenn sich das ganze nähere Umfeld ebenfalls mit eigenen unguten Mustern zu beschäftigen beginnt und wenn diese sogar gemeinsam reflektiert und verändert werden. Neben anderen systemischen Ansätzen hat sich bei Psychosen insbesondere Open Dialogue (oder zumindest die Berücksichtigung solcher Prinzipien achtsamen gleichberechtigten Dialogs) sehr bewährt.

Es ist sehr wichtig, sich von übermenschlichem Druck (und in solchen Situationen „normal“ funktionieren zu wollen, wäre eindeutig zu viel verlangt) zu befreien und die Selbstwirksamkeit Schritt für Schritt zu stärken, um aus den schlimmen Ohnmachtserfahrungen herauszufinden. Sich selbst neu kennen zu lernen und eine bessere und differenzierte Selbstfürsorge zu erlernen ist unerlässlich. Dafür braucht es ausreichend Raum und verschiedene therapeutische Angebote. Sich dafür Zeit zu nehmen und zu geben entspannt die Situation. Ebenfalls ist es von grosser Bedeutung, am Aufbau eines tragenden und passenden Freundeskreises und an der eigenen Beziehungsfähigkeit zu arbeiten, idealerweise auch eine:n Partner:in zu finden, mit dem das Zusammensein sich wirklich stimmig und gut anfühlt oder sich zumindest aus destruktiven Beziehungen zu lösen oder sich deutlich abgrenzen zu können.

Somatic Experiencing (ähnlich wie auch tanztherapeutische Ansätze und beispielsweise Focusing) empfinde ich neben der hilfreichen Art, Traumatisierungen tatsächlich zu verarbeiten (statt sich mit verhaltenstherapeutischen Anleitungen, problematische Muster durch diszipliniertes Üben zu verändern, neuerlich unter Druck zu setzen und damit die Probleme eventuell nur temporär zu lösen oder zu verlagern) und der dadurch erworbenen Stärkung des Vertrauens ins Leben selbst und in die eigenen inneren Ressourcen, auch deshalb als besonders weiterführend, weil durch die körperorientierte Therapie den vorbestehenden unbewussten Schemata (übrigens auch denjenigen der Therapeut:innen!) einfacher ein Schnippchen geschlagen werden kann

Übrigens leiden Psychose-Erfahrene und Stimmenhörende besonders stark unter Vorurteilen und Stigmatisierung. Studien zeigen, dass diese oft auch von Fachpersonen ausgehend erlebt wird, sowie dass die gesundheitliche Versorgung für Betroffene schlechter ist, weil sie oft auch bezüglich körperlicher Probleme nicht ernst genommen werden. Dies hat vermutlich auch damit zu tun, dass die bisherigen psychiatrischen Mainstream-Vorstellungen über Psychose, die auch in den meisten medizinischen Aus- und Weiterbildungen üblicherweise gelehrt werden, wenig hilfreich sind, und dass Fachpersonen die Betroffenen oft nur im Kontext von akuten Krisen kennen und/oder dass man in der Therapie logischer- und aus anderen Gründen natürlich auch sinnvollerweise oft über die akutellen Probleme spricht und nicht über das, was gut funktioniert. Dies verzerrt die Wahrnehmung der Fachpersonen. Und selbst dann, wenn die Ressourcen aktiv thematisiert werden, können sie sich kein genaueres Bild darüber machen, weil sie die Betroffenen nicht darin erleben.

Ebenso ist es eine in wissenschaftlichen Studien belegte Tatsache, dass Betroffene weit öfter Opfer von Straftaten werden als der Durchschnitt der Bevölkerung (während sie nicht häufiger zu Täter:innen werden!). Gleichzeitig schaffen sie es oft nicht, Schutz, Hilfe und Verständnis zu bekommen und werden in ihrer Not allein gelassen. Wenn jemand sich schutzlos fühlt und nur zu hören bekommt, er/sie solle halt seine Medikamente nehmen, dann hat dies schlimme Ohnmachtserfahrungen zur Folge, die, wenn sie länger andauern, zu Isolation, Wut, Erschöpfung, Resignation, Gleichgültigkeit und Suizid(versuch)en führen. Diese krasse Form epistemischer Ungerechtigkeit gilt es zu bekämpfen!

Jeder Mensch hat das Recht darauf, ernst genommen und nicht im Stich gelassen zu werden. Wenn es (noch) unmöglich ist, das Problem (richtig) zu verstehen, dann sollte zumindest dafür gesorgt werden, dass sich jemand Zeit für die betroffene Person nimmt, ihr Mitgefühl entgegenbringt, allenfalls auch authentisch die eigene Verunsicherung oder Ohnmacht benennt und das Sicherheitsempfinden stärkt, zum Beispiel indem man verspricht, in Notsituationen wieder da zu sein (explizit und ehrlicherweise so, wie es halt möglich ist), und dies dann auch einhält, im Ausnahmefall zumindest den Grund dafür kommuniziert oder sich später entschuldigt und sich dann kümmert, oder indem man die betroffene Person hinsichtlich der Gefahreneinschätzung oder der Schutzmöglichkeiten berät. Wenn stattdessen der Eindruck erweckt wird, gar nicht erst angehört oder ernst genommen zu werden, ist das fatal.

Es ist ja auch keinesfalls unmöglich, dass Menschen mit psychotischem Erleben tatsächlich Schwieriges geschieht, statistischerweise ja ganz im Gegenteil. Vielleicht hilft hierbei auch das Nachdenken darüber, was unsere unbewussten Muster in unseren Biographien bewirken: Das Beispiel von der Frau, die einen gewalttätigen alkoholkranken Vater hatte, und die sich (wiederholt) in Beziehungen mit ebensolchen Partnern wiederfindet – oder auch umgekehrt – ist zwar etwas klischeehaft, aber dient gut zur Veranschaulichung, was geschehen kann, wenn Menschen in ihrer persönlichen Vergangenheit bereits schlimme, unverarbeitete Erfahrungen von ohnmächtiger Ausgeliefertheit erlebt haben oder wenn es in ihrer Familiengeschichte solches gibt, das nach wie vor wirkt. Auch gibt es durchaus die Möglichkeit, dass sich (ähnlich dem Stockholm-Syndrom bei Überlebenden von Geiselnahmen) Traumabindungen gebildet haben und Betroffene sich nur sehr schwer von destruktiven Verhältnissen und Ausbeutung abgrenzen können oder ungute Dynamiken erst viel zu spät erkennen respektive wenn dies zusätzlich dazu auch im Umfeld ein Thema ist. Wenn dann auch Fachpersonen alles als psychotisch interpretieren, was Betroffene an Erfahrungen mit anderen belastet, und diese voreilig beschwichtigen, ohne genau zugehört zu haben, kann dies zu gefährlichen Situationen führen. Meine persönliche Erfahrung mit mir selbst wie auch in der Arbeit als Peer ist, dass es in jeder psychotischen Vorstellung, in jedem „wahnhaften“ Erleben zumindest ein Körnchen Wahrheit gibt, wenn auch manchmal symbolisch aufgeladen, von einer ähnlichen Erfahrung getriggert oder aus dem Kontext gerissen.

Nicht zu unterschätzen ist auch, dass in der modernen Welt mit jederzeit verfügbaren Smartphones, also auch Kameras und Aufnahmegeräten, sowie den destruktiven Dynamiken im Internet von Hasskommentaren, (Cyber-)Mobbing, lächerlich machenden Filmen, an den Pranger stellenden Attacken, Videoüberwachung durch Firmen, Internetkriminalität, ebenso wie einer politischen Polarisierung mit teilweise damit einhergehender Abwertung und Ausgrenzung von verletzlichen Menschen, die sogar als Schmarotzer wahrgenommen werden, Psychose-Erfahrene noch zusätzlich gefährdet sind. Cybermobbing ist bereits für Gesunde hochriskant und was es braucht, soche schrecklichen Situationen zu überleben, ist unbedingt auch eine gute soziale Einbindung und Vernetzung mit Menschen, die durch Dick und Dünn zu einem halten. Für Personen, welche sich schon vorher als einsam und ausgegrenzt erleben und zusätzlich dazu kaum ernst genommen werden, kann das tödlich enden. Ich möchte deshalb unbedingt zu Sensibilisierung aller Fachpersonen sowie der Öffentlichkeit aufrufen und dringend zur Schaffung von spezialisierten Angeboten respektive auch zu proaktiverem Eingreifen der Polizei bei Cybermobbing und entsprechenden Gesetzesanpassungen motivieren.

Menschen mit Psychose-Erfahrung und Stimmenhörende sind aber als besonders fein wahrnehmende Personen auch in normalen Alltagsituationen zusätzlichen Belastungen ausgesetzt. Unter anderem ist es deshalb unbedingt wünschenswert, dass bei den Betroffenen selbst, aber auch im Gesundheitswesen und im Umfeld (insbesondere auch in betreutem Wohnen, integrativen Arbeitsstellen, Sozialversicherungen, Behörden und natürlich bei Angehörigen) mehr Fachwissen über Hochsensibilität (welche auch für Psychose-Erfahrene und Stimmenhörende ein extrem wichtiges Thema ist) vorhanden ist. Ausserdem braucht es auch unbedingt generell viel mehr Forschung zu den Auswirkungen hochsensibler Nervensysteme. Hochsensible können notabene sogar wichtige Hinweisgebende für die Forschung sein, weil sie durch ihre feinere Wahrnehmung auch kausalen Zusammenhängen besser auf die Schliche kommen und durch ihre Kreativität, aus Not und aus Unzufriedenheit mit dem, was ihnen von den Schulmediziner:innen gesagt wird, oft selbst Lösungen und präventive Ansätze entwickeln. Dies ist übrigens auch ein guter Grund für Peer-Beratung. Wenn jemand mit der eigenen Hochsensibilität einen guten Umgang gefunden hat und wenn dies vom Umfeld akzeptiert und respektiert wird, kann diese Veranlagung zu einer grossen Stärke werden, besonders wenn sie in den richtigen beruflichen Feldern oder im passenden Moment eingesetzt wird. Allerdings: meines Erachtens ist die diesbezügliche Literatur auch mit einer gewissen differenzierten Vorsicht zu geniessen, denn ein langfristiger oder gar immer stärkerer Fokus auf Rückzug ist problematisch und wirkt sich verstärkend auf die Schwierigkeiten aus. Es geht eher darum, die eigenen Bedürfnisse, körperlichen Probleme (z.B. Unverträglichkeiten und besondere Empfindlichkeiten) und Trigger besser zu verstehen, vorzusorgen und rechtzeitig darauf reagieren zu können, wenn erste Anzeichen von Überforderung durch zu viele oder zu starke Reize da sind, oder ausreichend Pausen, Ausgleich und Erholung einzuplanen. Stimmenhörende erleben solche Problematiken oft noch dadurch verstärkt, dass ihre Stimmen in solchen auch körperlich reizüberfluteten Kontexten auftreten oder wegen des steigenden Stresspegels belastender werden. Jedoch ist es auch möglich und sehr hilfreich, das eigene „Toleranzfenster“ langsam auszuweiten. Auch hierbei helfen meist die Fokussierung auf die Körperempfindungen und auf die Erdung, Entspannungsübungen sowie die Verarbeitung angstauslösender Traumata.

Die Stärkung von Achtsamkeit kann sehr wichtig sein. Allerdings gilt es unbedingt, gleichzeitig negative Wertungen abzubauen und den Fokus im Trainieren zuerst auf angenehme und unproblematische Objekte im Innern und Äusseren zu richten. Es ist kontraproduktiv, wenn Betroffenen nach wie vor von Psychiater:innen und anderen Fachpersonen davon abgeraten wird, zu meditieren oder sich mit Spiritualität zu befassen. Stattdessen gilt es, entweder selbst das diesbezügliche Wissen zu erwerben und interessierte Betroffene dann achtsam zu begleiten oder diesbezüglich kompetente Orte zu empfehlen, wo Achtsamkeit und/oder weitere spirituelle Angebote behutsam vermittelt werden. Betroffene brauchen oft Sicherheit und die Stärkung ihres Vertrauens in solche Prozesse, damit sie bei unangenehmen Wahrnehmungen nicht in Ängste geraten, sondern sie einfach offen und interessiert betrachten können. Auch könnte es in psychiatrischen Institutionen hilfreich sein, auch auf Psychose spezialisierte Spiritual Care anzubieten. Mich dünkt es, dass wir diesbezüglich betreffend Depressionen viel weiter sind. Vielleicht weil auch Fachpersonen selbst nicht vor Burnout gefeit sind? (…Plädoyer für Peers!…)

Weitere Beiträge auf dieser Website:

Wie ein Blatt im Wind. Weshalb Ungewissheit eine grosse Belastung ist und wie sie in Vertrauen ins Leben transformiert werden kann – eine Betroffenenperspektive

https://inspeeratio.ch/weiterdenken/wie-ein-blatt-im-wind/

Ein gutes Leben macht Sinn! Was es braucht, um das Dasein als erfüllt zu erleben

https://inspeeratio.ch/weiterdenken/ein-gutes-leben-macht-sinn/

Empfehlungen für den Genesungsweg

Somatic Experiencing (SE): eine körperorientierte Traumatherapie – Somatic Experiencing ist meines Erachtens für alle Menschen mit psychischen Belastungen und in Krisen, ungeachtet von Diagnosen, hilfreich. Die Definition von Trauma sollte dabei nicht eng verstanden werden. Denn auch normalerweise, wenn sie einzeln erlebt werden, nicht sonderlich schwierige Erfahrungen von psychischer Verletzung können traumatisch sein, vor allem für Kinder, wenn die Verwundungen sich stetig wiederholen, wenn niemand bei der Verarbeitung hilft oder zumindest das Kind beruhigt und wenn nicht ausreichend ausgleichende gute Erfahrungen gemacht werden können, oder wenn sie mit körperlicher Gewalt und/oder sexuellem Missbrauch verbunden sind. Solche Entwicklungstraumata, die oft zunächst unbewusst sind und verdrängt werden müssen, damit das Leben erträglich ist, können schwierigste innere Muster auslösen, die auch zu (versteckter) Selbstsabotage führen können. Körperorientierte Traumatherapien wie Somatic Experiencing können auch bei solchen unbewussten Schwierigkeiten weiterführen und sogar bei Amnesien und transgenerational weitergegebenen Traumatisierungen helfen, von denen man kaum etwas weiss. Denn es braucht kein oder nicht viel Sprechen über die Probleme und schwierigen Erfahrungen und ist akzeptierend, ohne jegliche Wertung. Somatic Experiencing funktioniert mittels bewusster Wahrnehmung der inneren körperlichen Empfindungen und dem Aufbau des Vertrauens, dass es auf diese Weise möglich ist, auch extrem schwierige Emotionen auszuhalten und in einem vertrauensvollen Prozess deren traumatische Ursachen zu verarbeiten. Es hilft ausserdem bei psychosomatischen Erkrankungen und physischen Schmerzen.

Focusing: eine aus der Psychotherapieforschung entwickelte Selbsthilfemethode, die man aber auch in Kursen lernen und zu zweit praktizieren kann. Es geht darum, in den Körper hineinzuhorchen, zu spüren, was da ist, wenn einen etwas beschäftigt oder belastet, und dann zu schauen, was geschieht. Focusing hat gewisse Ähnlichkeiten mit Somatic Experiencing und kann gut damit verbunden werden. Hilfreich ist es auch ergänzend zu Gesprächstherapien.

Achtsamkeit und Meditation: Bei Menschen mit Ängsten kann es hilfreich sein, die Aufmerksamkeit auch bewusst auf den Körper und auf positive, angenehmene Wahrnehmungen (im Innern und im Äusseren) zu lenken, weil sonst der Fokus zu stark auf das Belastende gerichtet ist. Auch ist es unbedingt wichtig, das, was man wahrnimmt, nicht zu werten, sondern ihm mit Interesse zu begegnen. Duale oder mit der Zeit multiple Awareness wirken wie eine Triangulation und helfen so, einen im Hier und Jetzt zu verankern.

Atem- und Erdungsübungen: Oft ist es schon sehr hilfreich, gut die Füsse zu spüren, den Boden, der einen trägt, oder auch den Kontakt zum Stuhl. Aber je öfter man Atem- und Erdungsübungen praktiziert, desto stärker wirken sie. Es gibt eine grosse Fülle von Möglichkeiten. Sie können auch in schwierigen Momenten sehr entlastend sein und helfen dabei, sich zu stabilisieren und zu entspannen. Vielleicht lernt man auch, was in welchen konkreten Situationen für einen persönlich am Besten funktioniert.

Ein unbeschreiblich schönes Beispiel, was an Wundern geschehen kann, wenn Menschen es schaffen, in ihrem Körper präsent und miteinander in Verbindung zu sein, kann man in diesem kurzen Youtube-Film sehen:

https://www.youtube.com/watch?v=zkreiRt8GEY

Gruppen: Selbsthilfegruppen, z.B. Gruppen für Stimmenhörende, Recovery-Gruppen, trialogische Gruppen (d.h. dort nehmen nicht nur Betroffene, sondern auch Angehörige und Fachpersonen, aber alle auf Augenhöhe und ausgehend vom eigenen Erleben, teil), z.B. Psychose-Seminare, Neuroleptika-Trialoge, Borderline-Trialoge etc., aber natürlich auch therapeutische Gruppen zu verschiedenen Themen; Gruppen sind hilfreich, weil man dort eine Sprache finden kann für Erfahrungen, die schwierig ausdrückbar sind, und weil man auf diese Weise die Isolation überwinden kann. In einer Selbsthilfegruppe gibt es das Gefälle zwischen jemandem der ein Problem hat und dem Helfer nicht, sondern man kann Solidarität und Gemeinschaft erleben, ohne Angst vor Diskriminierung und Ausgrenzung haben zu müssen, und auch Missverständnisse sind seltener

Open Dialogue: Falls Angehörige und/oder andere wichtige Bezugspersonen sich engagieren und auch bereit sind, ihre eigene Haltung und Perspektive zu reflektieren, ist es sehr hilfreich, miteinander auf achtsame und gleichberechtigte Weise ins Gespräch zu kommen. In dieser Hinsicht ist vor allem Open Dialogue, ein in Finnland entwickelter Ansatz, der insbesondere bei Psychosen sehr gut funktioniert, empfehlenswert. Leider gibt es in der Schweiz erst wenige Teams, wo diese Methode praktiziert wird. Dann können sicher auch andere systemische und familientherapeutische Ansätze weiterhelfen, oder vielleicht kann man die Therapeut:innen sogar für eine Weiterbildung in Open Dialogue interessieren? Es gibt übrigens einen sehenswerten Dokumentarfilm von Daniel Mackler über Open Dialogue.

Ansätze, die mit inneren Anteilen arbeiten: Es ist wichtig, die verschiedenen Persönlichkeitsanteile oder inneren Tendenzen, die oft zu schwierigen Ambivalenzen, zu Zerrissenheit, Verunsicherung, Blockaden und Entscheidungsschwierigkeiten führen, miteinander in einen Dialog zu bringen, mit dem Ziel, sie zu integrieren, sie miteinander anzufreunden und füreinander zu gewinnen, um gemeinsam, als ganze Person, besser und gelassener unterwegs sein zu können, dies funktioniert übrigens auch mit den Stimmen, die man als von aussen kommend, oder als zwar im Kopf, aber fremd erlebt (Voice Dialogue – wurde auch explizit aufs Stimmenhören angepasst; aber auch Inner Family System, Ego State-Therapie und weitere ähnliche Ansätze)

Schematherapie: dabei geht es darum, den unbewussten, aber tief verankerten, nicht wirklich stimmigen, und deshalb unser Leben schwierig prägenden Glaubenssätzen, die wir aus der Kindheit mitgenommen haben, auf die Schliche zu kommen, und sie in stimmigere und hilfreichere Grundsätze zu verwandeln

Spiritualität: eine gute Verbindung zum Spirituellen, zu Gott, zum inneren Selbst und der Glaube an tragende Werte, sowie die Erfahrung immer „begleitet“ zu sein, Sinn im Leben, die Entwicklung eines tieferen Verständnisses des Lebens und des Menschseins, aber auch die Erfahrung von Gemeinschaft können sehr hilfreich und heilsam sein – es gilt hier meines Erachtens gut darauf zu achten, dass es wirklich für einen selbst stimmig ist, dass man Vertrauen hat und dass es eher um liebevolles Angenommensein, um Reflexion und Achtsamkeit, um die Entwicklung von tieferem Vertrauen ins Leben, um Ermutigung, sich selbst zu sein und sein eigenes Leben zu leben, geht, sowie auch darum, eine regelmässige, Gelassenheit fördernde Praxis (z.B. Beten, Meditieren, Besuch von Gottesdiensten, der Kirche, der Moschee, oder des Tempels, Rituale, spirituelles Embodiment) zu entwickeln und zu pflegen (und nicht etwa um restriktive, einschränkende, belastende, überfordernde, ausgrenzende Regeln und Vorschriften und Angstmache vor Bestrafung – all dies ist nicht hilfreich für die psychische Gesundheit). Wir dürfen auf jeden Fall unserer Intuition, unserer inneren Stimme vertrauen, müssen uns dafür aber auch Zeit und Ruhe nehmen, um sie zu spüren/zu hören. Nicht für alle ist dasselbe das Richtige, oder nicht zum gleichen Zeitpunkt.

Authentizität: Es ist immer hilfreich, stärker sich selbst zu sein, sich zu zeigen, wie man ist, zu sich zu stehen und sich für die eigenen Bedürfnisse und Sichtweisen zu wehren, den eigenen Interessen nachgehen zu dürfen, und das Leben so zu leben und zu verändern, dass es sich wirklich als das eigene anfühlt. Dafür hilft es, in sich hineinzuspüren, was wirklich stimmig ist, und dann darauf zu vertrauen, dass dies der richtige Weg ist, egal was andere sagen, aber natürlich bringt es einen auch weiter, den anderen zuzuhören und sich damit auseinanderzusetzen, weshalb sie es anders sehen. Mich dünkt es ebenfalls wichtig, auch für die psychische Gesundheit, sich mit ethischen Fragen zu beschäftigen, doch sollte man sich damit nicht in dem Sinn überfordern, dass man Druck auf sich macht Unmögliches zu tun, sondern auch sich selbst so mitfühlend behandeln, wie man es gegenüber den anderen tun möchte. Man kann und muss nicht die Welt retten oder wie Jesus sein, damit man in Ordnung ist, sondern wir alle sind dann in Ordnung, wenn wir ganz stimmig das tun, was wir als richtig empfinden und bei dem es uns gut geht und wir glücklich sein können. Dafür ist es notwendig, dass wir ehrlich mit uns selbst sind, dass wir aufrichtig mit anderen umgehen, dass wir aber auch unsere Grenzen akzeptieren, ebenso wie diejenigen der anderen. Wenn wir etwas nicht können, ist das nichts Schlimmes, sondern es hilft uns auch, zu entscheiden, was das Richtige für uns ist, oder dann ist es ein Hinweis auf eine für die Zukunft wünschenswerte Veränderung. Manchmal ist aber die Zeit noch nicht reif, dass wir es schaffen – vielleicht geht es erst, wenn wir zuerst noch etwas anderes gelernt haben, das wir jetzt noch gar nicht als Problem verstanden haben. Wir alle dürfen darauf vertrauen, dass wir, genau so, wie wir sind, in Ordnung und liebenswert sind. Sonst wären wir ja nicht so! Wir sind nicht unsere Probleme, sondern es hilft uns, zu sehen und gut zu finden, wer wir wirklich sind, um die Probleme Schritt für Schritt überwinden zu können. Beispielsweise kann ich die von meiner Hochsensibilität in einem ganz anders geprägten Umfeld verursachten Schwierigkeiten besser lösen, wenn ich akzeptiere, dass ich hochsensibel bin und mich darum zu kümmern beginne, was ich als Hochsensible brauche, um gesund und stabil zu bleiben. Dann werden die positiven Möglichkeiten, die ich als Hochsensible habe, immer mehr zum Vorschein und zum Tragen kommen, für meine eigenes Leben und für die anderen. Wenn ich stattdessen weiterhin meine (so wie es mir vielleicht als Kind weisgemacht wurde, weil ich immer ausgelacht wurde, wenn ich mehr Probleme hatte als andere), ich müsse eine ganz toughe Person spielen – oder ich sei sie gar, denn zunächst sind uns solche Dinge manchmal ganz unbewusst! – dann werden meine Schwierigkeiten nicht weniger, sondern vielleicht mit der Zeit sogar eskalieren.

gute Beziehungen und Freundschaften: unbedingt Kontakte aufbauen, hegen und pflegen! Aber auch hier gilt es zu differenzieren, was wirklich gut tut und wo es einfach nicht passt, unsere Gesundheit belastet. Gleichzeitig kann es hilfreich sein, wenn man sich sehr allein fühlt, dass man sich auch auf Menschen einlässt, die sich nicht unbedingt als die zukünftigen Traumpartner anfühlen – manchmal lernt man Schritt für Schritt und es ist besser, zuerst mit lockeren Freundschaften anzufangen, dabei zu lernen und dann weiterzusuchen, irgendwann anzufangen zu unterscheiden, wer wirklich passt und wenn ja wofür und wofür nicht. Wenn man sich weiterentwickelt, ist es auch normal, dass man sich mit den einen auseinanderlebt, dann ist es keine Schande, sich abzugrenzen, sich wieder zu lösen, sondern im Gegenteil, nur dadurch wird Raum frei für Passenderes. Manche sind, aus nachvollziehbaren Gründen, schüchtern, verunsichert und denken, niemand interessiere sich für sie. Das stimmt sicher nicht! Aber die anderen sind vielleicht ebenso schüchtern, oder wieder andere haben zu viel um die Ohren, brauchen es, dass andere ihnen zuerst ihr Interesse zeigen, bevor sie irgendwann, vielleicht nachdem es eine Weile einseitig war, auch von sich aus etwas vorschlagen. Es ist wichtig, zu versuchen, einfach auf andere zuzugehen und die Kontakte zu wiederholen, zu intensivieren. Wenn es aber nicht klappt oder wenn man merkt, dass der andere nicht wirklich möchte, dann hat sollte man das nicht persönlich nehmen oder auf sich beziehen. Entweder hat die Person einfach weniger (zusätzlichen) Bedarf an Kontakten oder es scheint ihr nicht stimmig – das ist jedoch keine Abwertung, sondern einfach eine persönliche Einschätzung. Man kann ja nicht mit der ganzen Menschheit befreundet sein, oder?

berufliche Tätigkeit, Ausbildung, ehrenamtliche Aufgaben, künstlerische Aktivitäten: Alle Menschen brauchen es, in ihrem Leben einen Sinn zu sehen. Je besser die Aufgaben, die man übernimmt, der Job, den man ausübt, die Interessen, die man zusammen mit anderen oder für andere pflegt, zu einem passen, desto erfüllter wird sich das Leben anfühlen, desto mehr hat man das Gefühl, dass es wirklich das eigene Leben ist, selbst wenn man nach wie vor oder immer wieder schwierige Zeiten durchmachen muss. Es lohnt sich, nach wirklich stimmigen Tätigkeiten zu suchen und nicht aufzugeben, auch wenn man dabei zunächst keine Unterstützung erfährt, z.B. ist es vielleicht besser, in einem kleinen Pensum das zu tun, was einem wirklich gefällt, oder autodidaktisch das zu lernen, was man möchte (es gibt aber heute das Recht auf Bildung auch für Menschen mit Beeinträchtigung – es lohnt sich, dafür zu kämpfen!), als einfach nur irgendetwas zu tun, um eine Tagesstruktur zu haben. Es gibt ja nicht nur Burnout, sondern auch Boreout, d.h. man kann auch aus Langeweile depressiv werden. Oft ist es auch wichtig, über gute Rahmenbedingungen nachzudenken (z.B. brauchen zu Reizüberflutung neigende Menschen meist eher ruhige Rahmenbedingungen, den Arbeitsplatz in der Ecke und nicht den in der Mitte, oder noch besser ihren eigenen Raum, es braucht die Erlaubnis, selbstfürsorgliche Pausen einzuschalten, einen kraftspendenden Gegenstand dabeizuhaben oder ein Bild aufzustellen, das einem jedes Mal gut tut, wenn man kurz hinschaut) oder sich Zeit zu nehmen, den richtigen Ort mit Menschen, die man mag, zu suchen, statt einfach die erste Möglichkeit anzunehmen, die sich ergibt. Ausserdem darf und sollte man sich auch anders entscheiden dürfen, als es das gesellschaftlich Übliche ist. Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch dann am meisten Gutes in diese Welt einbringt, wenn er selbst glücklich sein kann. Es hat einen Grund, weshalb wir alle genau so sind, wie wir sind. Es ist wichtig, darauf zu vertrauen. Auch glaube ich nicht, dass es faule Menschen gibt. Wenn jemand zu wenig aktiv ist, dann kommt das von schlechten Erfahrungen, weil er nicht weiss, was stimmig sein könnte, keine Chance dazu sieht oder nicht daran glaubt, es schaffen zu können. Menschen, die untätig sind, brauchen also diesbezügliche Unterstützung, oder sie sind einfach erschöpft und müssen sich erholen, bevor sie wieder einsteigen können. Es kann auch eine destruktive Erfahrung sein, wenn jemand als Asylsuchende*r hierher kam und unbedingt arbeiten wollte, dafür aber über lange Zeit keine Erlaubnis bekam, sondern gezwungen wurde, sich an finanzielle Unterstützung zu gewöhnen. Nichts Sinnvolles zu tun zu haben, macht depressiv.

Umgang mit Gefühlen und Emotionen: Es ist wichtig, sich nicht vor den eigenen Gefühlen und Stimmungen zu fürchten, selbst wenn es belastende oder heftige Emotionen sein sollten. Im Gegenteil, ihre Unterdrückung, Versuche, die Gefühle nicht zu spüren, lassen uns mit der Zeit krank werden. Versuchen wir beispielsweise, nach einem Verlust einfach weiterzufunktionieren, ohne uns dem Schmerz und der Trauer zu stellen, besteht die Gefahr, Depressionen zu bekommen. Auch Psychosen und Stimmenhören haben einen engen Zusammenhang mit diesem Thema. Sie sind wohl sogar Folgen davon, dass Menschen in schwierigen Situationen, vielleicht über lange Zeit in der Kindheit und Jugend, keine Akzeptanz und/oder hilfreiche Zuwendung bekamen, sondern sich stattdessen einseitig entwickelten und sich zu stark unter Druck setzen mussten. Solche Erfahrungen in der Vergangenheit, selbst wenn oder gerade weil sie zu Beginn der Symptomatik überhaupt nicht im Bewusstsein der Betroffenen sind, und nicht selten auch den Angehörigen nicht verständlich (denn es handelt sich dabei ja um die Auswirkungen zwischenmenschlicher Probleme, um schwierige interaktionelle Erfahrungen und Prägungen), haben nicht selten mit einer starken Unterdrückung von Emotionen zu tun. Wenn (entwicklungs-)traumatische Erfahrungen nicht verarbeitet werden können, weil Kinder dabei unbedingt Hilfe brauchen würden, aber womöglich niemand da war oder es niemand bemerkte, dann kann ein Mensch oft keine andere Strategie finden, als seine Gefühle nicht mehr zuzulassen. Dies kann entweder nur einzelne Emotionen oder auch eine grosse Palette von verschiedenen Gefühlen betreffen. Eine solche Unterdrückung führt zu einem eingeschränkten, sehr einseitigen Leben, zu fehlendem Zugang zu sich selbst und den eigenen Bedürfnissen und zu unpassenden Reaktionen auf Situationen, welche normalerweise diejenigen Gefühle auslösen, mit welchen die Betroffenen nicht umgehen, ja sie nicht einmal spüren können. Es fühlt nicht selten auch zu einer Überforderung, weil die Betroffenen sich in ihrer Einsamkeit zu viel Druck machen (oder Druck am falschen Ort), die Probleme zu lösen, oder auch meinen, sie müssten immer alles noch besser machen, nicht selten sich auch gegen Probleme und das Leiden anderer nicht abgrenzen können, weil sie auch ihre eigenen Fähigkeiten und Beschränkungen nicht richtig wahrnehmen können. Sie verzetteln sich vielleicht auch, wissen überhaupt nicht was sie beruflich tun wollen, oder entscheiden sich für Ausbildungen, die nicht zu ihnen passen, weil ihnen der Zugang zu ihren Gefühlen fehlt und sie sich deshalb zu stark an dem orientieren, was sie vom Umfeld als wünschenswert erleben – manchmal auch in einer Gegenreaktion darauf etwas Gegenteiliges. Oft passen sie sich aus einer tiefen Verunsicherung heraus zu stark an, und wenn sie selbst ihre Gefühle nicht richtig wahrnehmen, können sie auch von den anderen nicht richtig verstanden und interpretiert werden. All dies wird irgendwann, selbst wenn es zuvor kaum bewusst war, zu einer unerträglichen Belastung, auf welche die Psyche mit einem Ausnahmezustand und grosser Energie und extremem Tempo des inneren Geschehens reagiert. Vielleicht ist dies für Menschen, die sich in solchen starren, über lange Zeit verfestigten, aber, da sie sich nicht mehr in deren (familiärem) Entstehungskontext befinden, nicht mehr weiterführbaren Verhaltensmustern befinden, jedoch darin blockiert sind, ohne die Möglichkeit, sie bewusst wahrzunehmen, weil der Zugang zur Gefühlswelt fehlt, die einzige Möglichkeit zur Veränderung. Dies als ein Beispiel. Emotionen und Gefühle sind aber ganz bestimmt auch bei andersartigen psychischen Krisen ein wichtiges Thema. Lernen, sich allen Gefühlen zu stellen, die alten, durch Traumatisierungen ausgelösten, aber damals unterdrückten und deswegen nicht ausreichend gefühlten Emotionen zu verarbeiten und zu bewältigen, um danach wieder der jeweilig aktuellen Situation angemessene Gefühle und Emotionen zu spüren und bewusst darauf reagieren zu können, ist eine der Kernaufgaben auf dem Genesungsweg. Hierbei ist es wichtig zu wissen, dass wir mittels des Fühlens und auch köperlichen Empfindes von Emotionen problematische Erfahrungen verarbeiten, dass dies uns aber (selbst wenn es uns manchmal im ersten Moment, wenn wir zu wagen beginnen, uns dem zuzuwenden und zu öffnen, unerträglich erscheinen mag), nie überwältigen kann, solange wir uns in Sicherheit wissen, keine Angst haben und in diesen Prozess vertrauen. Dafür ist es auf jeden Fall hilfreich, Begleitung in Anspruch zu nehmen. Diese sollte aber neben solchen konkreten Verarbeitungserfahrungen auch dazu abzielen, uns zu ermächtigen, dies irgendwann auch selbst zu schaffen. Insbesondere bei schwierigen psychischen Belastungen oder komplexeren und vielleicht nicht gänzlich klaren (wegen eigenen Amnesien und Sprachlosigkeit innerhalb der Familie beispielsweise) Traumatisierungen braucht die Verarbeitung sehr viel Zeit und Energie. Oft ist es unmöglich, überhaupt so viel Therapie in Anspruch nehmen zu können. Auch sind leider die Rahmenbedingungen und zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, sowohl gesellschaftlich als auch psychiatrisch, leider diesbezüglich nicht optimal. Besonders hilfreiche Angebote müssen Betroffene oft sogar selbst bezahlen, weil sie (noch) nicht von den Krankenkassen übernommen werden oder zuwenige Fachpersonen sich mit den entsprechenden Ansätzen ausreichend auskennen.

Dass Musik und insbesondere die Hingabe daran, uns emotional in Schwingung bringen können, und wie fantastisch es ist, wenn wir uns getrauen, unsere Gefühle authentisch auszudrücken, lässt sich in diesem kurzen Youtube-Film sehen, wenn man auf den Gesichtsausdruck der Pianistin achtet. Für diesen Hinweis auf die Aufnahme von Martha Argerich bin ich dem Buch „Yoga“ von Emmanuel Carrère, der darin übers Meditieren ebenso wie über seinen Genesungsweg im Rahmen einer bipolaren Störung geschrieben hat:

https://www.youtube.com/watch?v=KCSEwfqs-VM

Selbstfürsorge und Ausgleich: Viele Menschen mit psychischen Belastungen haben in ihrer Kindheit zu wenig oder dann übergriffige, erdrückende Fürsorge erlebt. Es ist also ein wichtiges Thema, sich auf den Weg zu machen, immer besser herauszufinden, was einem gut tut und was man besser meidet – oder dann auch differenzieren zu lernen, wann und wie lange was gut tut und was nicht. Man kann dies nur selbst merken und umsetzen, darf und muss sich auch dafür einsetzen, dass es möglich ist, ausreichend Selbstfürsorge walten zu lassen, und nicht durch andere Menschen, deren Vorurteile oder durch belastende Rahmenbedingungen daran gehindert zu werden. Selbstfürsorge ist besonders bei hochsensiblen Menschen ein extrem wichtiges Thema, und gleichzeitig haben diese oft problematische Erfahrungen gemacht, weil sie mit ihrem feineren und reaktiveren Nervensystem schneller in Überforderung geraten und andere Leute dies nicht verstehen können und es einfach mühsam und anstrengend finden, vielleicht gar als lächerliches Theater abtun. Wenn wir uns und unsere Bedürfnisse besser kennen lernen und immer stärker berücksichtigen, dann wird es uns jedoch auf jeden Fall besser gehen, dann können wir mit der Zeit auch stärker werden und lernen, (wieder) mehr auszuhalten, und nur dann können wir auch für die anderen möglichst angenehme und hilfreiche Zeitgenoss*innen sein! Zur Selbstfürsorge gehört es auch, ausreichend Ausgleich zu haben. Man kann nicht immer dasselbe tun, die ganze Zeit gleich verbringen. Wir alle haben verschiedene Bedürfnisse, wir brauchen es sowohl, Zeit für uns zu haben und allein zu sein, wie auch mit anderen zu sein, mit nur einer Person oder auch in einer Gruppe, wir brauchen Stille ebenso wie Anregung, Entdeckungen und Neues ebenso wie Beruhigung, und Beständigkeit, wir brauchen erholsames Nichtstun ebenso wie Arbeiten und aktive Bewegung, Nachdenken und tiefgründige Gespräche ebenso wie es zusammen lustig haben, Spielen, Spazierengehen oder Sport, einfach mal einen Ausflug machen oder Dinge anpacken, drinnen sitzen ebenso wie in der Natur sein. Auch hier gilt es, herauszufinden, wie die Sache im Detail für uns persönlich aussieht – nicht bei jedem ist die gute Balance am gleichen Ort! Und manchmal verändern sich die Bedürfnisse auch mit der Zeit, insbesondere wenn sich ein wichtiger Baustein geändert hat, etwa die Arbeitsstelle, oder wenn man sich verliebt oder getrennt hat oder bei den Eltern ausgezogen ist oder mit einer Aus- oder Weiterbildung begonnen hat, von einer eigenen Wohnung in eine WG gezogen ist oder umgekehrt. All dies hat auch einen Einfluss auf unsere weiteren Bedürfnisse, weil sich das verändert hat, was schon gegeben ist.

Umgang mit Diagnosen, Behandlung und Therapie sowie mit Medikamenten: Meines Erachtens sollte man den Diagnosen nicht allzu viel Beachtung schenken. Sie können einen Hinweis geben auf das, was helfen könnte, aber manchmal schränken sie uns auch unnötig ein oder stigmatisieren uns gar. Sie sollten also weiterführen und nicht behindern! Es ist auch nicht gut, sich von ihnen erschrecken zu lassen. Ausserdem ist das meiste, das man vorher von solchen Dingen wusste, eh nicht wirklich ausgewogen oder gar vorurteilsbehaftet. Es bringt uns in der Regel eher weiter, uns mit positiven Erfahrungen anderer zu beschäftigen, als uns mit denjenigen Schicksalen zu identifizieren, die ganz schwierig sind. Heute gibt es zum Glück immer mehr ermutigende Lebensgeschichten zu lesen und zu hören. Diagnosen sind ausserdem nichts weiter als ein Hilfsmittel der Psychiatrie, die diagnostischen Kriterien sind aber nicht auf der ganzen Welt gleich und werden auch alle paar Jahre überarbeitet. Das heisst, man ist sich alles andere als einig, sowohl grundsätzlich wie auch im Einzelfall. Diagnosen haben auch einen ganz banalen Zweck, z.B. dass man krankgeschrieben werden kann oder dass die Krankenkassen die Behandlungen bezahlen. Man kann Diagnosen auch unterschiedlich verstehen und interpretieren, auch Fachpersonen sehen sie zum Teil ganz unterschiedlich. Es lohnt sich deshalb oft auch, Therapeut*innen zu finden, deren Sicht- und Vorgehensweisen wirklich zur eigenen passen, sonst verliert man sich nur in unnötigen Kämpfen und ärgert sich sinnlos. Wichtig ist, dass man sich nicht mit einer Diagnose identifiziert oder sich nur noch als krank sieht: diese Themen gehören vielleicht nun auch zu einem, aber sie sind nur ein kleiner Teil, selbst in Zeiten, in denen sie wirklich schwierig sind. Damit sie wieder weniger belasten, ist es wichtig, den anderen Aspekten möglichst viel Raum und Gewicht zu geben. Oft hilft einem gerade in dieser Hinsicht auch der Austausch mit anderen Betroffenen und ein Versuch, die psychischen Probleme oder die Krise in die eigene Biografie einzubetten, den Zusammenhang zur eigenen Geschichte und zur aktuellen Lebenssituation besser zu verstehen. Diagnosen fallen nie einfach vom Himmel. Ich persönlich glaube auch nicht daran, dass es etwas mit den Genen zu tun hat, sondern für mich ist es eindeutig, dass es Auswirkungen belastender Erfahrungen sind, welche die Symptome auslösen, allerdings kann es sich manchmal auch lohnen, die Familiengeschichte mit einzubeziehen. Natürlich ist die Hirnchemie durcheinander, wenn die Psyche im Ausnahmezustand ist, aber man sollte dies nicht als Ursache, sondern als den körperlichen Ausdruck der Krise verstehen. Man weiss heute immer mehr darüber, dass Traumatisierungen und schwierige Prägungen über mehrere Generationen weitergegeben werden können, und dass dies auch ganz körperlich verankert ist (Epigenetik). Die gute Nachricht davon ist aber auch, dass dies auch eine Veränderung mittels Verarbeitung und neuer, anderer Erfahrungen ermöglicht. Unsere Gehirne sind viel plastischer als man früher dachte, sie können sich also immer weiter entwickeln und anpassen. Vermutlich sind die Symptome in dieser Hinsicht sogar weiterführend, denn sie bringen ganz andere Erfahrungen und zwingen zum Herunterbremsen im Lebensstil, zu Denkpausen, zu Erholung, zu neuen Verhaltensweisen und Umorientierung. Deshalb ist es besser, zu versuchen, ihnen akzeptierend und mit Interesse zu begegnen, zu verstehen zu versuchen, was sie mit einem selbst, mit unterdrückten Problemen und Gefühlen, mit verdrängten Erfahrungen und mit dem bisherigen Leben zu tun haben, statt sie (komplett oder allzu lange) einfach mit Medikamenten zu behandeln und zu unterdrücken. Psychopharmaka können hilfreich sein, wenn sie nicht zu hoch dosiert werden. Sie dämpfen aber nicht nur die Schwierigkeiten und die vielleicht allzu heftigen Emotionen oder ermöglichen eine Aufhellung der gedrückten Stimmung, sondern sie blockieren auch die Entwicklung. Jedenfalls ist es mit Medikamenten nicht möglich, ganz sich selbst zu sein. Manchmal sind die Symptome aber derart überfordernd, dass es nicht ohne Tabletten geht. Jedoch darf man diesbezüglich auch Selbstbestimmung einfordern, sollte sich aber mit verschiedenen Ansichten und Empfehlungen vertieft auseinandersetzen und die eigene Vorgehensweise auch an die jeweilig sich verändernde Situation anpassen und sich der eigenen Verantwortung bewusst sein. Dies ist noch verstärkt der Fall, wenn jemand minderjährige Kinder hat, denn diese leiden immer mit. Leider haben die Medikamente meist nicht nur kurzfristige, sonderen auch langfristige Nebenwirkungen, und noch schlimmer ist, dass die Psychiatrie diese oft noch nicht wirklich kennt oder mit zusätzlichen Medikamenten darauf reagiert, was mit der Zeit fatal sein kann. Ausserdem passt sich der Körper an sie an, das heisst, wenn man sie nicht wieder reduziert, absetzt, oder zumindest auch therapeutische Fortschritte gemacht hat, braucht es nicht selten immer noch höhere Dosierungen. Oft lohnt es sich deshalb, ein gewisses Mass an Symptomen in Kauf zu nehmen, auch weil diese wichtige Hinweise auf die zugrundeliegende Problematik sind und man sich dank ihnen, wenn man sie im Kontext der Biografie ebenso wie im Zusammenhang mit aktuellen Lebenserfahrungen versteht und wenn man sie auch bezüglich ihrer Reaktion auf das, was man gerade tut, beobachtet, besser verstehen und in eine gute Richtung weiterentwickeln kann. Man sollte sich auf jeden Fall Therapeut*innen suchen, die sich mit solchen Dingen auskennen oder dies von ihnen einfordern. Ausser natürlich man mag solche Themen überhaupt nicht. Auch sich selbstbestimmt für die langfristige Einnahme von Medikamenten zu entscheiden, damit man Ruhe vor den Symptomen hat, ist legitim. Nicht alle Menschen sind gleich und nur jede*r Betroffene selbst kann spüren, was stimmig ist und wie lange. Manchmal braucht es auch einfach zwischendurch Erholungspausen oder den Hauptfokus auf ganz anderem, z.B. auf dem Beruf oder auf einer neuen Partnerschaft.

Persönliche Medizin: Patricia Deegan, eine wichtige Person in der angelsächsischen Recovery-Bewegung, selbst mit Psychose-Erfahrung und einem eindrücklichen Genesungsweg, hat irgendwann verstanden, dass Medikamente nur eine mögliche Art von Medizin sind. Sie prägte deshalb den Begriff der „Personal Medicine“. Damit ist gemeint, dass jede*r Betroffene ganz individuelle, für ihn oder sie hilfreiche, genesungsfördernde Aktivitäten, Hobbies, Gedanken, Menschen, Orte oder Gegenstände finden kann. Insbesondere wenn wir uns deren jeweils spezifische Wirkungsweise bewusst machen und uns vielleicht auch in ein Notizheft oder auf ein Poster an die Wand schreiben, was wir in welcher Situation, bei welchen Problemen und Gefühlen beispielsweise als beruhigend und stabilisierend oder aktivierend, motivierend, die Stimmung hebend, ermutigend oder erholsam erleben, und was genau in uns geschieht, wenn wir dies tun, denken oder sehen, dann können wir uns selbst in ganz schwierigen Momenten, wenn wir ohne Erinnerungshilfe keinen Zugang mehr dazu hätten, selbst weiterhelfen. Eine Idee von Patricia Deegan ist auch, sich je ein Kärtchen für jede persönliche Medizin zu gestalten, auf der einen Seite die Situation zu beschreiben, wann dies vonnöten sein könnte, und auf der anderen die persönliche Medizin und wie sie wirkt. Beispiele von persönlicher Medizin sind, da sie eben individuell sind und auch aus verschiedenartigen Problemen herausführen sollten, ganz unterschiedlich, und manchmal kann sogar dasselbe nicht für jeden auf gleiche Art oder in der gleichen Situation gut tun. Für mich sind zum Beispiel Waldspaziergänge etwas total Wichtiges, einerseits helfen sie mir, wenn ich regelmässig rausgehe, präventiv, um stabiler zu bleiben und nicht so rasch aus dem Gleichgewicht zu kommen, aber auch wegen der Bewegung an der frischen Luft für meine körperliche Befindlichkeit, andererseits wirken sie in Phasen von Stress beruhigend, lassen mich von Reizüberflutung und Hyperaktivität wieder in mehr Gelassenheit und Besonnenheit finden, unterstützen meine Reflexion, heben meine Stimmung, öffnen mich für gute Begegnungen mit anderen Menschen, lassen mich Erfahrungen spiritueller Verbundenheit machen und regen mich dazu an, achtsamer zu sein, genauer zu beobachten, mich an ganz kleinen, unscheinbaren Dingen zu freuen, aber auch zu üben, unangenehme Einflüsse aushalten zu können oder mit ihnen sogar Positives verbinden zu lernen: indem ich den Lärm der nahen Autobahn oder des Helikopters, der über die Baumwipfel fliegt, ganz bewusst wahrnehme und versuche, ihn nicht negativer zu werten als das Zwitschern der Vögel oder das Kinderlachen, das von der Feuerstelle her zu hören ist. Manchmal stelle ich mir dabei vor, aus welchen herzerwärmenden Gründen die Leute in den Autos gerade unterwegs sein könnten, und dann versöhnt mich das, auch wenn ich mich ums Klima und um die Umwelt sorge. Persönliche Medizin kann aber auch die Lektüre eines guten Buches sein, ein Telefongespräch mit einer lieben Freundin, eine Überraschung, die ich mir für jemand anderen ausdenke – das verbindet -, die zugehörige Karte selbst zu malen, beim Kaffeekochen in der Küche herumzutanzen – wobei die Art der Musik je nach aktueller Problematik eine andere sein muss -, mir einfach eine stille Pause auf dem Sofa zu gönnen, meine Füsse bei jedem Schritt zu spüren, ein Bild anzuschauen, das für mich mit guten Empfindungen verknüpft ist, mich unterwegs über jede liebevolle Geste zu freuen, die ich zwischen wildfremden Leuten beobachte, eine heisse Dusche zu nehmen, um ein bisschen Wärme zu tanken, Lieder zu hören, bei denen ich mitsingen mag, einfach nur meinen Atem wahrzunehmen, auf eine aufrechte Körperhaltung zu achten, das Chaos im Kopf auf einem Notizblock zu sortieren, den Stimmen, die nur ich höre, wenn sie mich gerade wieder mehr beschäftigen oder belasten – und besser auch schon präventiv, damit sie gar nicht erst Oberhand bekommen können! – klar und deutlich zu antworten, ihnen (wenn ich alleine zu Hause bin, jedenfalls) auch ebenso laut Paroli zu bieten, wie sie mich kleinzumachen versuchen, oder einen neuen Text für meine Website zu schreiben, von dem ich denke, dass er für andere Menschen interessant sein könnte. Natürlich müsste ich, wenn ich mir all meine persönliche Medizin aufschreiben würde (ich habe das einst auch getan), um mich in Momenten der Überwältigung daran zu erinnern, noch genauer beschreiben, wann ich das brauchen könnte und weshalb.

Wasser, und auf der metaphorischen Ebene der Fluss des Lebens vielleicht auch, tragen sowohl ganz Leichtes als auch ganz Schweres. Es ist wichtig , darauf vertrauen zu lernen. So verwandeln sich vielleicht irgendwann auch der gefühlte Brocken im Bauch und die niederdrückende Last auf den Schultern in eine Leichtigkeit, die nicht mehr so rasch untergehen kann.


Unsere Psyche ist nicht kompliziert, sondern komplex.

Kompliziert sind nur manche Theorien darüber.

Don’t accept stigma

fight for your own life instead

and show them who you really are!

It is worthwile, no matter how long it takes to get there.

Es sind noch zu Viele, die uns stigmatisieren,

aber wenn wir darüber sprechen,

werden sie immer weniger….

Weitere Empfehlungen

Links

Netzwerk Stimmenhören Schweiz: https://netzwerk-stimmenhoeren.ch/

Psychose-Seminar Zürich: https://www.psychoseseminarzuerich.ch/

Pro Mente Sana: https://promentesana.ch/

Selbsthilfe Schweiz: https://www.selbsthilfeschweiz.ch/

Dargebotene Hand – Telefon 143: https://www.143.ch/

Recovery College Bern: https://www.recoverycollegebern.ch/

Recovery College Ostschweiz: https://recoverycollege-ostschweiz.ch/

Recovery College Zürich: https://recoverycollegezuerich.ch/

Literatur

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Charf Dami (2020): Auch alte Wunden können heilen. Wie Verletzungen aus der Kindheit unser Leben bestimmen und wir dennoch Frieden in uns selbst finden können

Gapp-Bauss Sabine (2015): Depression und Burn-out überwinden. Ihr roter Faden aus der Krise: Die wirksamsten Selbsthilfestrategien

Gendlin Eugene T. (2016): Focusing. Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme

Graham Linda (2020): Resilienz. Wirkungsvolle Übungen, um nach Schwierigkeiten, Enttäuschungen und Katastrophen wieder ins Gleichgewicht zu kommen

Grün Anselm/Robben Ramona (2021): Grenzen setzen, Grenzen achten. Wege zu einem glücklichen Miteinander

Hansen Hartwig (Hg.) (2013): Der Sinn meiner Psychose. Zwanzig Frauen und Männer berichten

Holmes Tom und Lauri (2010): Reisen in die Innenwelt. Systemische Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen

Huber Michaela (2010): Der innere Garten. Ein achtsamer Weg zur persönlichen Veränderung

Iding Doris (2021): Die Angst, der Buddha und ich

Jacob Gitta/van Genderen Hannie/Seebauer Laura (2011): Andere Wege gehen. Lebensmuster verstehen und verändern – ein schematherapeutisches Selbsthilfebuch

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Lauveng Arnhild (2008): Morgen bin ich ein Löwe. Wie ich die Schizophrenie besiegte

Levine Peter A. (2021): Sprache ohne Worte. Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt

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Schlimme Jann E., Scholz Thelke, Seroka Renate (2019): Medikamentenreduktion und Genesung von Psychosen

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Sellin Rolf (2020): Wenn die Haut zu dünn ist. Hochsensibilität – vom Manko zum Plus

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Tate Christie (2021): The Group. Wie ein Therapeut und ein Kreis von Fremden mein Leben rettete

Weiser Cornell Ann (2017): Focusing – Der Stimme des Körpers folgen. Anleitungen und Übungen zur Selbsterfahrung

Dokumentarfilme

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Borges Phil und Tomlinson Kevin (2017): Crazywise

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Gränicher Dieter und Pro Mente Sana (2007): Recovery. Wie die Seele gesundet – acht Frauen und Männer erzählen

Gränicher Dieter (2015): Geprüfte Liebe

Hagen Edgar (2007): Someone beside you

Kalms Jana, Stolz Piet und Winkels Sebastian (2015): Nicht alles schlucken / Leben mit Psychopharmaka. Ein Lernfilm.

Kalms Jana und Striegnitz Torsten (2006): Raum 4070 / Psychosen verstehen. Ein Lehrfilm aus dem Psychoseseminar Potsdam

Krug-Metzinger Anja (2015): Stimmen im Kopf

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Mackler Daniel (2011): Open Dialogue. An alternative, Finnish approach to healing psychosis

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Medienprojekt Wuppertal (2009): Wenn die Realität auf einmal anders ist. Ein Film über Menschen mit der Diagnose Schizophrenie

Neuenschwander Jürg (2016): Gleich und anders. Wenn die Psyche uns fordert

Pohlmeier Alexandra (2008): Himmel und Mehr. Dorothea Buck auf der Spur

© Barbara Schumacher, inspeeratio.ch (mit Ausnahme der Links)

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