Dass Teilnehmende von Demonstrationen durch Gummischrot schwer verletzt werden und dadurch körperliche Behinderungen erleiden, ist meines Erachtens ebenso ein No-Go wie die gewalttätigen Eskalationen von Demonstrationen. Wenn aufgrund solcher Ereignisse beider Art nun aber die Fronten in dem Sinn verhärtet werden, dass es einerseits für Veranstaltende problematisch werden kann, überhaupt noch zu wagen, legale, friedliche Demonstrationen organisieren zu wollen, und andererseits die Polizei pauschal als böser Feind links-grüner Aktivist*innen gesehen wird, dann läuft meines Erachtens etwas schief. Nicht nur ist Gewalt in jeder Form zu verurteilen, sondern wenn die Polizei in der Gesellschaft sehr negativ beurteilt wird, bedeutet dies logischerweise auch, dass sich der Pool an Menschen, welche sich für eine Polizeiausbildung interessieren, auf ein allenfalls problematisches Spektrum verengt, was die Schwierigkeiten langfristig verschärfen würde. Es braucht deswegen unbedingt eine differenzierte politische Antwort auf diese Thematik.
Meines Erachtens müssen Gummischrot und andere potenziell schwere Verletzungen verursachende Mittel als polizeiliche Massnahme bei Demonstrationen verboten werden. Der gefährliche Einsatz von Gummischrot ist eine unverhältnismässige Reaktion auf eskalierende Demonstrationen, ganz grundsätzlich, aber umso mehr, als in solchen Situationen nicht ausgeschlossen werden kann, dass es auch nicht-gewalttätige Demonstrationsteilnehmende oder gar Unbeteiligte treffen könnte.
Gleichzeitig ist es illegal und nicht hinnehmbar, wenn das Eigentum anderer zerstört wird, obwohl eine Veränderung der Machtverhältnisse und eine Umverteilung der Ressourcen dringlich ist. Und auch hier kann es im Rahmen eskalierender, unübersichtlicher Situationen, besonders in Innenstädten, ebenfalls an den angeprangerten Umständen Unschuldige treffen. Und wenn die Demonstrant*innen sogar Gewalt gegen die Polizeikräfte anwenden, zum Beispiel, indem sie Steine oder andere Gegenstände werfen, ist dies eine weitere untragbare Eskalation. Auch Polizist*innen sind Menschen und haben ausserdem in solchen Situationen verständlicherweise emotionale Reaktionen. Dazu kommt, dass auch durch solche Aktionen Unbeteiligte gefährdet werden. Dass die Polizei gewalttätige Demonstrationen verhindern oder stoppen muss, ist ganz einfach ein Teil ihrer Aufgabe.
Wie aber kann diese Problematik in eine positive Richtung verändert werden?
Wenn es ein Verbot von Gummischrot gäbe, würde die Notwendigkeit für die Polizei, rechtzeitig auf unproblematische Weise einzugreifen (d.h. vorerst einfach gelassen und die Demonstration möglichst nicht störend im Hintergrund präsent zu sein, statt bereits von Anfang an mit aggressiv wirkenden und deshalb provozierenden Mitteln den Protest schon unnötig einschränken zu müssen, aber mit der Sicherheit bietenden Möglichkeit, bei jeglicher problematischen Tendenz stufenweise rasch mit etwas mehr Sichtbarkeit und Nachdruck reagieren zu können), damit es zu möglichst wenig Eskalation kommt, noch verstärkt. Dies bedeutet meines Erachtens zweierlei: Einerseits braucht es wohl tatsächlich zusätzliche personelle Ressourcen für die betroffenen Polizeikorps. Andererseits – und damit unbedingt obligatorisch zu verbinden! – ist es notwendig, dass Polizist*innen regelmässig darin geschult und weitergebildet werden, zu erkennen, welche Reaktionen ihrerseits in welchen Situationen ethisch vertretbar sind und was wann sinnvoll ist, um zu deeskalieren. Regelmässige Sensibilisierungsworkshops, ein persönlicher Dialog mit Vertreter*innen der anderen Seite über die jeweiligen Erfahrungen und die daraus generierte Problematik, sowie ethische Fallbesprechungen und Klarheit, dass schwierige Erfahrungen, emotionale Verarbeitung brauchen, sollten unbedingt zum polizeilichen Alltag gehören. Und ich meine damit nicht etwa einen Workshop pro Jahr, sondern einen diesbezüglichen Termin pro Woche! (Dies betrifft übrigens auch andere Tätigkeitsbereiche der Polizei: zum Beispiel wenn es um Themen wie Diskriminierung, Racial Profiling oder um den Umgang mit verletzlichen Menschen geht, die sich in akuten Notsituationen befinden.) Gleichzeitig ist auch eine Entschärfung der Situation zu erwarten, wenn Demonstrationen ohne unnötigen bürokratischen Aufwand oder mit weniger Einschränkungen in der Art der Protestaktionen rascher und einfacher bewilligt würden.
Ganz grundsätzlich dünkt es mich von grosser Bedeutung, dass wir als Gesellschaft – und insbesondere in allen Bereichen, in denen Macht ungleich verteilt ist und leider manchmal sogar Zwang oder Gewalt angewendet werden – achtsamer mit den psychologischen Dynamiken umgehen lernen, welche bei den Beteiligten (auf allen Seiten!) in Stresssituationen ganz automatisch handlungsleitend werden. Nur wenn wir verstehen, dass es sich immer bei allen um verletzliche und oft bereits in der Vergangenheit (psychisch) verletzte Menschen handelt, die schwierige Erfahrungen verarbeiten und an ihrer Besonnenheit und Gelassenheit aktiv arbeiten sollten, sowie dass es dazu auch förderliche Rahmenbedingungen benötigt, können wir unnötig eskalierenden Tendenzen aktiv etwas entgegensetzen. Diese Investition in Reflexion, Einfühlungsvermögen, psychische Stärke und Frustrationstoleranz lohnt sich dann aber in kritischen Situationen immens! Das Leben und die Gesundheit von allen Menschen sollten eindeutig Priorität haben vor kurzfristigen Einsparungen.
© Barbara Schumacher, inspeeratio.ch