
Mit meinem Handy in der Hand liess es sich auch in jenen Zeiten irgendwie überleben, als allzu viele Trigger mich ständig dissoziieren liessen. Die Kamera immer dabei zu haben, erwies sich als die hilfreichste Überlebensstrategie. Denn beim Fokussieren auf das, was um mich herum sichtbar ist, und im Versuch, darin etwas Interessantes zu sehen, lag auch die Kraft, mich ins Hier und Jetzt zurückzuholen. Diese Erfahrung hat nicht nur sacht begonnen, die Künstlerin in mir zum Leben zu erwecken, sondern hat mir auch verschiedene andere interessante Erlebnisse beschert.

Zu Graffiti hatte ich zuvor kaum einen Bezug, und erst recht nicht zu den überall in der Stadt verteilten Tags und Stickern, die mich zuvor eher befremdet hatten. Doch nun, mit der Kameralinse vor den Augen, begann ich anders zu sehen. Diese optischen Markierungen wurden plötzlich zur Streetart. Kunst mit einfachen Mitteln, und irgendwie schön, dass sich die Leute dabei um unsere Leistungsgesellschaft einen Deut scheren, denn schön muss es ihnen definitiv nicht immer sein.

Dennoch, oder gerade deswegen, produzieren diese nicht immer verständlichen, manchmal nicht einmal entzifferbaren Zeichen interessante Phänomene: Brüche im ordentlichen Umfeld, Dissonanzen mitten im Zwang zur gleichmässigen Gestaltetheit, Attacken gegen die unfairen Eigentumsverhältnisse. Das ist auch ein Protest gegen die Vernachlässigung des einzelnen Menschen, der sich seiner persönlichen Einzigartigkeit vielleicht zu wenig bewusst ist. So zeigt er, dass es ihn auch gibt, dass er sich nicht (ganz) verdrängen lässt, dass er für sich kämpft, dass auch er ein Recht darauf hat, gesehen zu werden. Und möglicherweise ergibt sich darin – analog wie bei mir beim Fokussieren darauf – für die Sprayer:innen und Sticker Aufklebenden der Anfang eines kreativen Befreiungsprozesses. Manchmal dünkten mich diese Phänomene aber auch selbst irgendwie unterdrückerisch, fast schon gewalttätige Attacken auf Feineres, Subtileres. So divers, wie das Leben auch sonst ist? All das begann mich zu bewegen.

Es fiel mir dabei auch auf, wie viel Mühe sich Fussballfans machen, um die Liebe zu ihrem Club zu demonstrieren und für die Welt sichtbar zu machen. Gleichzeitig bin ich ein ängstlicher Mensch und meide das Letzigrundstadion mit einer möglichst weitläufigen ÖV-Umfahrung, wenn ich mal nach Altstetten muss und die Durchsage im Tram Fussballfans in der Stadt als Urheber:innen für mögliche Verspätungen thematisiert. All dieses Fantum war für mich ein komplett unerklärliches Phänomen und der Gedanke, plötzlich einen Südkurven-Block gegenüberzustehen, löst(e) tendenziell Panik in mir aus. Doch ich bin auch Ethnologin, und paradoxerweise – oder vielleicht im Gegenteil, denn irgendwie musste ich ja trotz meiner Angst überleben und mich weiterentwickeln – auch immer wieder ziemlich mutig. Ich setzte also beim Fotografieren der FCZ-Embleme zunehmend meinen Forscherinnen-Blick auf, um mich dem Unverständlichen langsam anzunähern. Und so schwand auch im wiederholten Kontakt mit den stereotypen Tags meine Angst.

Eines Tages, ich war gerade auf einem Spaziergang am See, begegnete ich in der Nähe der Roten Fabrik einem Sprayer in Aktion, der auf einer grossen Fläche nichts weiter tat, als mit einem beträchtlichen Eifer die drei Buchstaben möglichst prominent zu platzieren. Ich zögerte ein wenig, doch dann fasste ich mir ein Herz und sprach ihn an. So gefährlich kann er nicht sein, dachte ich, es hat ja auch etwas sehr Berührendes, wie wichtig ihm das ist: die Zeit, die er sich nimmt, sich für etwas ihm sehr Wertvolles zu engagieren, während die anderen Leute auf der Wiese den Sommer feiern. Ich fragte ihn also, warum er das mache. Er sei Fan des FCZ, erklärte er bereitwillig, weil ihm dies wichtig sei. Dort erlebe er, dass alle dabei bleiben würden, egal wie es laufe. Selbst wenn die Resultate der Matchs für ihren Club ein Desaster seien, würden sie die Sache nie aufgeben und auch keinen im Stich lassen. Egal ob im Hoch oder im Tief, man halte zusammen. Das sei ja sonst nicht überall so. Da hatte er definitiv Recht! Ich fand diesen Grund, ein Fussballfan zu sein, herzerwärmend und fragte weiter, wer denn da dazu gehöre. „Alle“, antwortete er. „Alle, die in dieser Stadt leben und sich für Fussball begeistern.“ – „Egal, wer sie sind und woher sie kommen?“ hakte ich nach. „Ja, klar. Alle. Wenn sie hier in Zürich daheim sind, gehören sie zu uns.“ Das gefiel mir natürlich noch mehr.

Diese Beschäftigung ermöglichte mir irgendwann eine ganz andere Erfahrung. Erschrocken fand ich mich eines Tages als zuletzt, erst in Wiedikon, Eingestiegene in einem von Fussballfans überfüllten Bus Richtung Morgental. Die Szenerie könnte frau sich so zusammengequetscht vorstellen, wie wenn es sich um eine Sardinenbüchse mit der Nummer 72 handelte. Ich musste bei jeder Türöffnung aufpassen, dass ich nicht aus dem Bus fiel, und in dem Moment, als die beiden Flügel sich vor meiner Nase wieder schliessen wollten, den Leuten um mich herum allzu nahe kommen. Meine Angst kroch mir wieder den Nacken hoch. Da erinnerte ich mich der Graffiti, und mein Mut siegte. Ich fragte ganz einfach, so laut, dass es sicher alle hören mussten, ob mir diese Situation möglicherweise Angst machen sollte. „Ich kenne mich damit nämlich überhaupt nicht aus.“ Die Fussballfans lachten und machten Witze. Da machte ich auch Witze und war beruhigt. Im Morgental stiegen wir alle zusammen aus. Zuhause in der Stadt Zürich.
