
Weshalb Ungewissheit eine grosse Belastung ist und wie sie in Vertrauen ins Leben transformiert werden kann – eine Betroffenenperspektive
Dieser Artikel wurde in einer anderen Fassung publiziert: Schumacher B. (2022). Wie ein Blatt im Wind. Die Belastung durch Ungewissheit und ihre Transformation. Psychiatrische Pflege, 7 (5): 9-12. Er kann hier bezogen werden: https://www.hogrefe.com/ch/zeitschrift/psychiatrische-pflege#2+1
Ein Blatt fällt zu Boden. Sein Stiel bricht oben in der Baumkrone und das Blatt fällt sanft zur Erde, möglicherweise schaukelt es während seines Flugs auch ein wenig hin und her oder der Wind bläst es ein Stück weit fort, vielleicht kommt es ins Trudeln und es bleibt für eine Weile auf einem der unteren Äste oder auf einem Busch hängen, bevor es irgendwann auf den Boden zu liegen kommt.
Man könnte diese Geschichte natürlich auch schon viel früher beginnen, aber dieser Ausschnitt reicht, um das zu veranschaulichen, was ich zeigen möchte: Niemand weiss zu Beginn der Geschichte, ob und wie heftig das Blatt herumgewirbelt werden und wo genau es zu liegen kommen wird. Auch das Blatt selbst nicht. Wenn wir uns vorstellen, wir wären ein solches Blatt, irgendwann im Herbst, schon gelb und ein wenig rot gefärbt, dann würde uns wohl die blanke Panik erfassen, und dies umso mehr, wenn wir gänzlich im Unfrieden damit stünden, was uns geschehen wird, wenn wir es ablehnen und uns gegen die Einsicht der Tatsachen, wie sie nun halt einmal sind, sträuben würden. Aber auch dann würden wir mit dem Schicksal hadern und in inneren Widerstand kommen, wenn wir nicht zufrieden mit dem wären, was wir im Frühling und Sommer getan hätten, wenn wir das, was wir erleben konnten, als ungenügend und mangelhaft erfahren hätten, sei dies einfach unseren eigenen Vorstellungen entsprechend oder auch vergleichsweise mit den anderen Blättern um uns herum, die vielleicht mehr Sonnenlicht und Wärme oder auch mehr oder weniger Aufregung durch ihre Exposition gegenüber den Kräften von Wind und Sturmböen erfahren konnten als wir selbst. Auch wenn wir uns mit übermässigem Druck konfrontiert sähen, ob hauptsächlich von anderen ausgeübt oder auch von uns selbst fortgeführt, was wir noch vor unserer letzten Reise zu leisten, zu lernen, weiterzugeben oder zu erleben hätten, könnten wir uns ganz gewiss, wenn der Moment unausweichlich gekommen wäre, nicht einfach leichten Herzens fallen lassen und uns dem hingeben, was mit uns geschähe.
Kontrolle ist eine Illusion
Uns Menschen, und dies insbesondere in unserer heutigen Leistungsgesellschaft mit grossen vielfältigen Möglichkeiten eines Menschenlebens, geht es meist nur dann gut, wenn wir die Illusion von Kontrolle haben, wenn wir denken, wir könnten die Ziele lange im Vorfeld definieren und planen, wie wir dorthin kommen, und dass wir dabei auch noch auf allen Etappen glücklich, erfolgreich in verschiedensten Lebensbereichen und bis ins hohe Alter gesund sein könnten. Doch das Leben ist auch für uns im Grunde nicht anders als für ein Blatt: es ist ungewiss und entzieht sich unserer Verfügbarkeit, auch wenn wir es manchmal – mehr oder weniger gut und mehr oder weniger lang – schaffen, uns die Illusion der Kontrolle zu erhalten. Doch spätestens dann, wenn wir zum ersten Mal eine Krise erleben, einen Bruch unseres eigenen Lebensplans, eine Unmöglichkeit, unsere Vorstellungen zu verwirklichen, wird uns schmerzlich bewusst, dass dem nicht so ist. Und je bewusster wir dies wahrnehmen, desto stärker beginnen wir an der Ungewissheit zu leiden, zumindest solange wir es nicht schaffen, diese schwierige Erfahrung in ein Vertrauen höherer Art umzuwandeln. Es ist zu vermuten, dass das Blatt nicht (oder zumindest weniger als wir) unter seinem Schicksal leidet, und dies vielleicht gerade deshalb, weil es kein Bewusstsein hat, keine gedanklichen Erinnerungen und keine Zukunftspläne, keine Wünsche und keine Sorgen. Das Blatt ist einfach Materie, durch und durch, wenn auch zeitenweise lebendige. Es ist jederzeit ganz im Hier und Jetzt, es denkt nicht nach, will nichts ändern, arbeitet nicht daran, etwas zu erreichen. Wir Menschen hingegen sind uns zwar einigermassen unserer jeweiligen Lebensumstände bewusst, aber unsere Bewusstheit wird erst dann zu einer Hilfe, zu etwas wirklich Positivem für unser persönliches Leben und den inneren Frieden, den wir damit haben, wenn sie sich erweitert in eine Bewusstheit des Lebens an sich, wenn sie den Sprung in eine andere Dimension der Erfahrung – und vielleicht auch des Glaubens – immer stärker schafft. Denn dann können wir eine tiefere Form von Vertrauen erleben und auch aktiv stärken. Dies ist die Voraussetzung dafür, die Ungewissheit, wie sie tatsächlich immer und überall gegeben ist, umfassend sehen und annehmen zu können, und uns im vollen Bewusstsein aufs Leben einzulassen, uns ihm hinzugeben in der ganzen Palette der Erfahrungen und Empfindungen, die wir machen. Wenn Menschen besonders schwierige oder langanhaltende Krisenerfahrungen machen, ist dies die vielleicht einzige oder zumindest substanziellste Weise, das Leben trotz allem als sinnhaft und erfüllend erleben zu können und vollumfänglich ja dazu zu sagen, was auch immer uns geschieht.
Wie komme ich zu dieser (vorläufigen) Quintessenz über den Umgang mit Ungewissheit?
[…(Beschreibung meines prägenden Erlebens schwieriger Erfahrungen als Kind mit Bezug zum Thema Ungewissheit)…]
Mit Beginn meiner Psychose-Erfahrung verschob sich die Ungewissheit, an der ich litt. Als Erstes merkte ich, dass ich meinen eigenen Sinnen, vor allem meinen Ohren, nicht mehr trauen konnte, selten auch meinen Augen, ab und zu den Empfindungen, berührt zu werden. Der Zweifel an dem, was geschah, und daran, ob und wie ich darauf reagieren sollte, wurde zu einem ständigen nagenden Begleiter, auch zu einer kaum zu bewältigenden Aufgabe. Mit der Diagnose einer Schizophrenie kam die Angst vor mir selbst dazu. Ich erlebte ja auch, dass ich nicht mehr gleich fühlte und unter Druck anders zu handeln begann als früher. Durch die lange Zeit einfach hingenommene Verschreibung von Antipsychotika in einer Dosis, die für mich mit belastenden Nebenwirkungen einherging, kam es zu einer neuen Form von Lähmung. Nun kämpfte ich mit der Ungewissheit, ob mein Leben je besser werden würde, ob ich es schaffen würde, es wieder als sinnhaft zu empfinden, ob ich mein Studium würde durchziehen können und ob dies überhaupt ein geeignetes Ziel war, ja, ob ich es überhaupt am nächsten Tag schaffen würde, am Morgen aus dem Bett zu kommen. Dann irgendwann – Gott sei dank verbunden mit aufkeimender Zuversicht, die durch mehr Energie wegen neuer Medikamente, durch den Erfolg des Studienabschlusses und einer neuen passenderen und herausfordernderen Arbeitsstelle, aber auch durch den zufälligen Kontakt zu einem ehemaligen Stimmenhörer geweckt worden war – kamen die quälenden Fragen hinzu, ob die Medikamente allenfalls schlimmere langfristige Nebenwirkungen haben könnten, und ob ich selbst daran Schuld sein würde, weil ich sie ja jeden Tag brav schluckte.
Eine stimmige Aufgabe als erste positive Gewissheit
Ich machte aber auch immer mehr Schritte aus meiner Ohnmacht heraus, fand das Psychose-Seminar Zürich und fing an, mich dort zu engagieren, las viel Fachliteratur, lernte auch immer mehr über alternative Ansätze und begann mich, zunächst ehrenamtlich und in einem kleinen Nebenjob, um andere Betroffene zu kümmern. Schliesslich machte ich neben meiner bisherigen Arbeit als Projektkoordinatorin bei einem Hilfswerk die Peer-Ausbildung. Dann allerdings brachte mich eine schwierige Liebesbeziehung in eine grosse Krise, in deren Verlauf ich plötzlich für mehrere Monate ohne Arbeit und Einkommen da stand. In dieser Zeit plagten mich extreme Existenzängste und auch schlimme Zweifel an mir selbst und an meinen Fähigkeiten. Vieles, das mir zuvor immer leicht von der Hand gegangen war, schaffte ich nicht mehr. Dann konnte ich in einem zunächst kleinen Pensum wieder einsteigen. Die Arbeit als Peer war der Beginn einer neuen Art von Gewissheit, nämlich einer inneren: Ich spürte, dass diese Aufgabe zu mir passte, dass ich sie auf gute Weise verkörpern konnte. Dies gibt mir bis heute Sinn und Erfüllung und stärkt – oder wiederbelebt, wenn es zwischendurch schwierig ist – das Gefühl, dass ich in Ordnung bin, wie ich bin, und dass ich, zumindest beruflich, einen stimmigen Platz gefunden habe.
Schwieriger Weg der Bewusstwerdung ermöglicht zunehmendes Vertrauen
Ich habe dann begonnen, meine Medikamente wieder zu reduzieren, im vollen Bewusstsein, dass dies keine einfache Sache werden würde. Und sie wurde noch viel schwieriger, anstrengender und belastender als gedacht. Aber indem ich mich dem Leidensdruck, wenn er weniger geworden ist, wieder mit einer weiteren Dosisreduktion aussetze, um dabei immer wieder wichtige Erkenntnisse über mich, über Psychose und Stimmenhören sowie über wirksame Strategien zu erlangen, und meine Einstellungen und meinen Alltag Schritt für Schritt verändere, stärkt sich nach und nach mein Glaube in den Genesungsweg, aber auch in meine Intuition und Resilienz. Allmählich wächst in mir ein tiefes Vertrauen ins Leben heran, das zwar manchmal temporär nicht mehr zugänglich ist, das ich aber jedes Mal wiederherstellen kann. Und während mir immer bewusster wird, dass es in der normalen Alltagsebene gar keine Gewissheit geben kann (und dass mir dies, wenn ich mit psychotischen Symptomen zu kämpfen habe, bloss in einer verschärften Form bewusst wird), entdecke ich zunehmend eine andere, unbeschreibliche Dimension, auf die immer und überall Verlass ist und die mich stets wieder aufrichten und mir guten Mut machen kann. Nach wie vor belastet mich aber jeden Tag die Ungewissheit betreffend der Angemessenheit konkreter Entscheidungen. Meine Instabilität bezüglich meiner Stimmung und der empfundenen Belastung und die immer wieder allzu rasch sich meldende Erschöpfung, weil es schlecht einschätzbar ist, wie viel Energie mir jeweils für Freizeitaktivitäten, zusätzliche kleine Engagements oder neue Genesungsschritte zur Verfügung steht, sind mir schmerzlich bewusst.
Wie die bewusste Körperwahrnehmung uns im Hier und Jetzt verankert
Besonders hilfreich auf meinem Weg erlebe ich es, mich meinen Gefühlen auf der Ebene der Körperempfindungen mittels Focusing (eine Selbsthilfemethode) und Somatic Experiencing (eine körperorientierte Traumatherapie) zu stellen, auch wenn sie manchmal im ersten Moment in einer schier unerträglichen Wucht da sind. Ich kann sie auf diese Art verarbeiten und zu einem gesunderen Umgang mit ihnen finden. Auch Achtsamkeitsübungen erweisen sich als unterstützend, insbesondere wenn ich duale oder multiple „Awareness“ mit einem Teil der Aufmerksamkeit immer auf der Körperwahrnehmung praktiziere. Dies stabilisiert und stärkt mich auch, wenn ich fiese Stimmen höre. Es wirkt wie eine Art Realitäts-Triangulation und bringt mich wieder in Entspannung, Gelassenheit und frohe Energie. Ich erlebe zwar nach wie vor sehr schwierige Momente und es ist auch weiterhin ungewiss, ob es langfristig funktionieren wird, dass ich mich auf meine Erfahrungen und meine Intuition verlasse, und dies manchmal auch gegen die Meinung von psychiatrischen Fachpersonen. Aber ich fühle mich ganz gewiss viel lebendiger als vor meiner Psychose oder während der höher dosierten Medikamenteneinnahme. Die Ohnmacht mildert sich ab, weil ich mich in einem stetigen selbstwirksamen Prozess befinde. Ich erlebe im Gegensatz zu früher auch immer wieder Tage der Entspannung und Augenblicke des Glücks. Augenblicke, in denen ich mich – wie ein Blatt im Wind, ganz im Hier und Jetzt – vertrauensvoll dem Leben hingeben kann.
Dies ist ein Auszug meines ursprünglichen Artikels. Die hier verwendete Artikelfassung entspricht nicht dem in der Zeitschrift Psychiatrische Pflege veröffentlichten Artikel und kann deshalb nicht zur Zitierung herangezogen werden. Bitte verbreiten oder zitieren Sie diesen Artikel nicht ohne die Zustimmung der Autorin. Die Publikation finden Sie hier: https://www.hogrefe.com/ch/zeitschrift/psychiatrische-pflege#2+1
© Barbara Schumacher, inspeeratio.ch