Ein gutes Leben macht Sinn!

Was es braucht, um das Dasein als erfüllt zu erleben

Dieser Artikel wurde in einer überarbeiteten Fassung publiziert: Schumacher B. (2022). Ein gutes Leben macht Sinn. Was es braucht, um das Dasein als erfüllt zu erleben. Psychiatrische Pflege 7 (1) 1-5. Er kann hier bezogen werden: https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000407

Wer keinen Sinn im Leben sieht, hat ein Problem, das es ernst zu nehmen gilt. Sinnfragen beschäftigen fast alle ab und zu und sind ein im weiteren Sinn spirituelles Thema. Allerdings können sie sich in psychischen Krisen noch verschärfen. Dieser Beitrag soll ausgehend von philosophischen und psychologischen Erkenntnissen dazu ermuntern, über das Sinnhafte im Leben nachzudenken und dies auch für die psychiatrische Arbeit mit Betroffenen zu nutzen.

Philosophische Sichtweisen

Was ist das sinnloseste Leben, das man sich vorstellen kann? Susan Wolf (in Fehige et al., 2004) sieht ein Sinnbild dafür in einem Menschen, den sie Blubb nennt. Blubb sitzt tagein, tagaus vor dem Fernseher, trinkt Bier und schaut sich eine Seifenoper nach der anderen an. Sein Leben ist eine völlig passive, nichts vollbringende Existenz. Um Sinn zu empfinden, müssen wir uns aktiv und (zumindest teilweise) erfolgreich für etwas engagieren, das auch im Nachhinein einen positiven Wert für uns beibehält.

Albert Camus (in Fehige et al., 2004), dessen Werk dem Existenzialismus zugerechnet wird, beschäftigte sich mit einem antiken Mythos. Sisyphos wurde von den Göttern dazu verurteilt, unablässig einen schweren Felsbrocken auf einen Berg hinauf zu wälzen, nur damit dieser dann jedes Mal wieder hinunterrollte. Camus sah darin ein Symbol für das Absurde in jedem Leben. Wir mühen uns ab, nur um zu überleben und irgendwann zu sterben. Doch wir können dieses Schicksal bezwingen, gerade indem uns diese Absurdität bewusst ist und wir das Leben trotzdem bejahen. Wir sind unserem Schicksal überlegen, wenn wir es mittels Verachtung überwinden. Indem Camus ein derart negativ konnotiertes Wort verwendete, wollte er vielleicht verdeutlichen, dass es keinen Zweck hat, sich an dem zu zerreiben, was wir nicht ändern können. Stattdessen sollten wir uns innerlich davon distanzieren und uns ganz bewusst positiv ins Leben einbringen.

Für Richard Taylor (in Fehige et al., 2004) ist der einzige objektive Witz allen Lebens, dass sein ständiger Kreislauf nie aufhört. Wir können nur subjektiv für unser Leben Interesse aufbringen. Nicht dass wir etwas tun, sondern dass wir es tun wollen, macht unser Leben sinnvoll, und dies aus unserem Innern heraus. Richard Hare (in Fehige et al., 2004) ergänzt, dass das, was uns wichtig sei, sich in unseren Entscheidungen und in der Mühe zeige, die wir dafür aufwenden. Eine Verunsicherung mit Sinnfragen werde durch die Schwierigkeit sichtbar, Prioritäten zu setzen. Dass uns etwas ausreichend Sinn gibt, ist also keine objektive Eigenschaft dieser Sache oder Tätigkeit, sondern wir selbst empfinden es als wichtig, ohne dass wir dafür eine Begründung brauchen. Um solche Werte zu finden, kann die Nachahmung anderer Menschen hilfreich sein, vor allem in unserer Jugend. Doch langfristig reicht das nicht aus, denn wir wollen, dass unser Leben für uns ganz persönlich Sinn macht. Dazu braucht es Erfahrungen und, um tiefere Werte zu erkennen, ist auch oft ein Ringen darum nötig. Als Atheist, der die Welt rein rational erklärt, beschäftigt es Thomas Nagel (in Fehige et al., 2004), dass der objektive Standpunkt, nämlich dass ein Menschenleben zufällig und bedeutungslos sei, nicht mit dem in uns allen tief verankerten subjektiven Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit, vereinbar ist. Er entschärft dieses Problem damit, dass er mittels Moral, Demut und einer Haltung „nichtegozentrischer Achtung vor dem Besonderen“ ein gewisses Gleichgewicht zwischen beiden Perspektiven herstellt.

Vielleicht könnte man dem mehr Einsicht und Gewicht geben, indem man unseren Gefühlen nicht weniger Wert beimässe als dem Denken und auch die Existenz von etwas Höherem in Betracht zöge, wobei es sich dabei auch um wichtige Werte oder Liebe handeln könnte, wenn man nicht von Gott sprechen mag.

Hierbei kommt Jeffrey Gordon (in Fehige et al., 2004), ebenfalls ein amerikanischer Philosoph, zu Hilfe. Damit das Leben einen Sinn haben könnte, müsste die Welt seiner Ansicht nach verstehbar sein, was wir aber rein vernunftmässig nicht schaffen. Er schlägt deshalb vor, die Welt nach dem Modell ästhetischer Kohärenz zu betrachten. Wenn wir die Welt – analog dazu, wie wir Kunstwerke anschauen – mit einem inneren Sinn für das Schöne betrachten, können wir in ihr und im Leben einen einheitlichen (ästhetischen) Zweck, eine wohlwollende Absicht sehen, die alles durchdringt. Wir können also den Sinn des Lebens nicht mit dem Kopf entdecken, aber ihn mit unserem Herzen erahnen.

Viktor Frankl und die Logotherapie

Der jüdische Arzt Viktor Frankl hat sich schon früh mit dem Lebenssinn befasst. Dies half ihm, die schreckliche und extrem bedrohliche Situation zu überleben, als er unter dem Nazi-Regime in ein Konzentrationslager kam. Er schrieb nach dem Krieg ein autobiographisches Buch und systematisierte sein Wissen über Sinnfragen, indem er einen therapeutischen Ansatz, die Logotherapie, und später die Existenzanalyse entwickelte. So widmete er sein Lebenswerk dem Thema Sinn und gründete die als dritte Wiener Schule bezeichnete Richtung – neben der Psychoanalyse von Sigmund Freud und der Individualpsychologie von Alfred Adler. Für Frankl (in Fehige et al., 2004) ist der Wille zum Sinn die entscheidende menschliche Triebfeder. Er glaubte, dass der Wille zur Lust, der für Freud zentral war, oder der Wille zur Macht, das vorrangige Motiv bei Adler, erst dann wichtig werden, wenn der Wille zum Sinn frustriert ist. Der Mensch lenkt sich davon ab, eine innere Leere zu spüren, indem er sich mit Aktivitäten beschäftigt, die lustvoll sind oder seinen Drang nach Status und Macht befriedigen. Eine Sinnkrise stellt für Frankl nicht etwas psychisch Krankhaftes, sondern eine spirituelle Not und ein moralisches Problem dar. Sinn muss im Zusammenhang mit der menschlichen Fähigkeit und dem Bedürfnis zur Transzendenz gesehen werden.

Frankl (2019) sieht drei Möglichkeiten, Sinn zu finden: 1) durch Taten und Werke, 2) dadurch, etwas oder jemanden zu erleben resp. zu lieben und 3) in sehr schwierigen (Grenz-) Situationen am Leiden zu wachsen oder dieses in etwas Gutes zu verwandeln. Es geht also darum, etwas zu erschaffen, etwas Wertvolles zu erleben und zu bezeugen oder eine gute innere Haltung zu entwickeln und zu leben. Frankl war der Meinung, dass Sinn nicht gegeben oder erzeugt werden kann, sondern in jeder konkreten Situation gefunden werden muss. Dies geschieht allerdings vor dem Hintergrund der Einzigartigkeit der Person. Wir sollten uns also fragen, was die in der Situation liegende Aufgabe für uns als individuelle Menschen mit unseren spezifischen Fähigkeiten und Erfahrungen sein könnte. Beim Erkennen dessen, was wir sinnhaft tun können, und bei der Entscheidung dafür hilft uns das Gewissen, das wir ständig verfeinern sollten. Sinnfindung hat also auf diese Weise immer mit Verantwortungsübernahme zu tun. Das ist oft nicht einfach. Das Schöne daran ist aber, dass durch den Willen zum Sinn auch die notwendige Kraft erwächst.

Erkenntnisse aus der Positiven Psychologie

Daniela Blickhan (2015) fasst verschiedene Studienergebnisse zusammen, welche sich mit dem Sinnerleben beschäftigen. Es hat sich gezeigt, dass dieses individuell verschieden und breit gefächert ist. Notwendig für das Erleben von Sinnhaftigkeit sind Kompetenz, Autonomie und Beziehung. Insgesamt gibt es neben der Selbstakzeptanz vier weitere zentrale Bereiche, aus denen sich Sinnerleben speist:

  • Leistung/Arbeit (sich einsetzen, vom Wert überzeugt sein, Herausforderungen suchen, Gelingen)
  • Beziehungen und Nähe (gute Beziehungen erleben, anderen vertrauen, sich hilfsbereit verhalten, Fairness und Respekt, Aufbau einer exklusiven Beziehung, Entscheid für eine Familie)
  • Religion und Spiritualität (Beziehung mit Gott/etwas Höherem erleben, an ein Leben nach dem Tod glauben, einen Beitrag zu einer Glaubensgemeinschaft leisten)
  • Selbsttranszendenz und Generativität (im Handeln die eigenen Interessen (auch) transzendieren, einen Beitrag für die Gesellschaft leisten, ein Vermächtnis hinterlassen).
Recovery und Sinn

Der Zusammenhang von individuellen Recovery-Wegen mit dem Lebenssinn ist offensichtlich. Recovery führt hin zu mehr Selbstakzeptanz und Eigenständigkeit sowie zu einer als stimmig empfundenen Möglichkeit, sich in die Gesellschaft einzubringen. Die Betroffenen sind also einerseits unterwegs zu einem sinnerfüllteren Leben, andererseits ist der Recovery-Prozess selbst sinnhaft, indem sowohl Leiden überwunden und transformiert wird, als auch indem er zu persönlichem Wachstum führt.

Peers kennen solche Zusammenhänge aus eigener Erfahrung und haben sie in ihrer Ausbildung reflektiert. Beispielsweise verstehen sie die Bedeutung der Bemühungen, psychotische Erfahrungen im Kontext von Biographie und eigenen Verhaltensmustern zu sehen, sodass aus ihnen heraus ein vorwärts führender Prozess entstehen kann, statt eine solche Entwicklung durch zu hohe Medikamentendosen zu blockieren. Sie haben vielleicht selbst erlebt, dass es wichtig sein kann, an einen Sinn zu glauben, weil dadurch mehr Vertrauen ins Leben möglich und deswegen der Kopf freier wird, zu verstehen, was geschieht und es zu bewältigen. Auch haben sie gelernt, wie wichtig es ist, selbst Verantwortung zu übernehmen, aus der Opferrolle herauszufinden und ihr eigenes Leben – welches durchaus ausserhalb des Üblichen sein kann – selbst in die Hand zu nehmen. Sie wissen, dass es schwierig ist, nicht mit der Sinnfrage zu hadern, wenn man im Alltag keine subjektiv als bedeutsam erlebten Tätigkeiten ausübt, oder sich auf etwas festzulegen, wenn man sich selbst entweder noch zu wenig kennt oder sich unbewusst als verkehrt oder in ständiger Kritik von aussen erlebt.

Begleitung von Betroffenen

Wer andere in Sinnfragen unterstützt, sollte vermitteln, dass es dabei kein richtig und kein falsch gibt, sondern dass alle nach persönlich stimmigen Entscheiden suchen, diese dann aber auch fällen sollten, ohne sie ständig wieder anzuzweifeln, auch damit die nötige Kompetenz wachsen kann. Um Sinnerfüllung zu erleben, ist es wichtig, aktiv und anpackend tätig zu sein. In welcher Form dies geschieht, sollte dem Einzelnen entsprechen: für manche sind konkrete Erzeugnisse der Arbeit wichtig, andere brauchen eher einen direkten Bezug zu Menschen, das Gefühl einer inneren Entwicklung oder dass sie kognitiv oder kreativ gefordert werden. Gleichzeitig ist es gut, zu merken, dass man selbst nicht weniger wertvoll ist als alle anderen und dass es deshalb auch Sinn macht, sich für das eigene Wohlergehen einzusetzen.

Fachpersonen können die Selbstakzeptanz der Betroffenen fördern und sie dazu ermutigen, einen subjektiv als wertvoll empfundenen Beitrag für andere zu leisten, Beziehungen und Freundschaften einzugehen und sie zu vertiefen, Erfüllendes zu erleben, etwas Bedeutsames auszudrücken oder eine persönlich tragfähige Spiritualität zu entwickeln, indem die Verbindung zu etwas Höherem gepflegt oder auch Werte reflektiert werden und man sich an ihnen ausrichtet. Dabei ist ein individuell stimmiges Gleichgewicht anzustreben.

Blosse Tagesstruktur oder Ablenkung von den Schwierigkeiten ist langfristig nicht empfehlenswert, sondern es ist wichtig, an die Fähigkeiten der Betroffenen und an ihr inneres Gespür zu glauben und ihnen Mut zu machen. Denn ein Leben als Blubb kann nicht erfüllend sein. Vielleicht ist es für die meisten am Ende auch weniger schlimm, zeitweise an Krisen zu leiden, als das eigene Leben als unnütz zu empfinden? Und wie Frankl zeigte, kann es schon tiefen Sinn machen, aufrecht durch Leiden hindurchzugehen. Auf jeden Fall aber ist es schwierig, Sinn zu erleben, wenn man meint, nicht sich selbst sein zu dürfen.

Literatur

Blickhan, D. (2015). Positive Psychologie. Ein Handbuch für die Praxis. Junfermann

Fehige, Ch., Meggle, G. & Wessels, U. (Hrsg.) (2004). Der Sinn des Lebens. dtv

Frankl, V. (2019). Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. Piper

Die hier verwendete Artikelfassung entspricht nicht vollständig dem in der Zeitschrift Psychiatrische Pflege veröffentlichten Artikel unter https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000407. Dies ist nicht die Originalversion des Artikels und kann deshalb nicht zur Zitierung herangezogen werden. Bitte verbreiten oder zitieren Sie diesen Artikel nicht ohne die Zustimmung der Autorin.

© Barbara Schumacher, inspeeratio.ch